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Was vom Stalle übrig blieb

Bereits lange vor Weihnachten ist das Bild vom Jesuskind in der Krippe allgegenwärtig. Aber was ist eigentlich dran an den Geschichten von der Geburt Jesu?

Die Versuche, die historischen Hintergründe der biblischen Weihnachtsgeschichte zu erläutern, sind vielfältig. Manche verfahren dabei nach dem Motto „retten, was zu retten ist“. Da wird dann aus dem Stall von Bethlehem mit durchaus nachvollziehbaren Argumenten ein Wohnhaus mit Haustierabteilung.

Die Umstände der Geburt wurden rekonstruiert

Das ist interessant zu lesen – das Problem liegt aber auf einer ganz anderen Ebene. Es geht sehr grundsätzlich um die Frage, wie man die Bibel überhaupt liest. Das Evangelium des Lukas ist ausdrücklich kein historischer Bericht, sondern eine theologische Erzählung. Natürlich gibt es historische Spuren in dieser Geschichte, wie etwa den Kaiser Augustus und den Statthalter Quirinius. Daraus lässt sich dann beispielsweise das Jahr der Geburt Jesu ableiten.
Die Umstände der Geburt Jesu waren aber auch schon für den Evangelisten Lukas nicht mehr in allen Einzelheiten rekonstruierbar. Und das gibt ihm Freiheit, die Geburtsgeschichte neu zu erzählen. Sein Ausgangspunkt ist das, was er vom Leben und der Botschaft Jesu verstanden hat. Davon hatte er schon in vielen anderen Geschichten in seinem Evangelium so berührend erzählt: Von Jesu Liebe zu denen am Rand, zu den Armen und Ausgegrenzten, von der Möglichkeit der Umkehr und von der Freude Gottes an den Menschen, die ihn suchen. Und für Lukas ist wichtig, dass es eine Verbindung gibt zwischen seiner neuen Geschichte und den alten Geschichten der hebräischen Bibel. Auch dort wird von Gottes Wirken unter Menschen erzählt, die in konkreten, historisch belegbaren gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen lebten.

Engel über Feld und Stall, nicht über Palästen

So beginnt Lukas seine Geschichte mit einer Erinnerung an den legendären König David, auf dem die Hoffnungen ganz Israels ruhten, an die kleine Stadt Bethlehem, die schon beim Propheten Micha der Ort einer großen Verheißung war. Die Futterkrippe, in die Maria ihr Baby legen muss, malt eine Urszene der Ungeborgenheit und Not aus. Unterwegs sein, auf der Flucht, ohne Heimat, das wiederum ist die Urerfahrung, die das Volk Israel gemacht hat – und zu der gehörte, dass Gott immer bei ihnen war. Die Hirten draußen auf dem Feld waren in der Gesellschaft ihrer Zeit „außen vor“ – und ausgerechnet sie erfahren die gute Nachricht als erste. Über dem Feld und dem Stall, nicht über dem Palast, singen die Engel. Dort und nirgendwo anders geht Gottes Glanz über der Welt auf.
Lukas erzählt das Leben Jesu und seine Botschaft von Gewaltlosigkeit und Feindesliebe, vom Verzicht auf Macht und Besitz. Er weiß auch, wie die Geschichte ausgegangen ist und dass Jesus sterben musste. „Jesus hat das eben durchgezogen“, würden meine Kinder sagen. Bei ihnen denke ich jetzt, wo sie größer werden, immer wieder: Jedes von ihnen war eigentlich schon bei der Geburt so, wie ich sie oder ihn jetzt kenne. Warum sollte das bei Jesus anders gewesen sein?

Die Geschichte vom Stall ist ewig

Die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist kein historischer Bericht. Deswegen ist sie aber nicht weniger wahr. Im Gegenteil. Mit einem 2 000 Jahre alten Wohnhaus mit Futtertrögen darin hat mein Leben nichts zu tun. Aber ein Baby habe ich auch schon im Arm gehalten und weiß, wie sorgfältig es vor Kälte geschützt werden muss und dass es Windeln braucht. So ist Gott in die Welt gekommen, sagt Lukas mir. Und gefunden haben ihn zuerst die, die immer draußen vor sind. Aus diesen Bildern kommt die Kraft dieser Geschichte, nicht aus den Fakten. Von dem Stall oder meinetwegen von dem Wohnhaus ist kein Brett und kein Stein übrig geblieben. Aber die Geschichte vom Stall – die ist ewig. Wenn ich sie höre, wird sie wahr.

Die Autorin war Leiterin des Zentrums für evangelische Predigtkultur in Wittenberg und ist jetzt  Pfarrerin an der Berliner Gedächtniskirche.