Wo verläuft die Grenze zwischen Meinung und Beleidigung? Stephan Christoph ist Juniorprofessor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert er, dass die Meinungsfreiheit kein Recht auf Lügen abdeckt, ob für Politiker im Bierzelt Sonderregeln gelten und wieso in Schwaben noch zum guten Ton gehören kann, was anderswo als derb gilt.
epd: Herr Christoph, welche Rolle spielt die Gesprächssituation, ob eine politische Rede wie beim Gillamoos in Abensberg als Beleidigung zu bewerten ist?
Christoph: Ob eine Aussage rechtlich gesehen beleidigend ist, kann von der Gesprächssituation abhängen: Neben der inhaltlichen Auslegung macht der Ton die Musik. Viele alltägliche Gespräche unter Jugendlichen müssten in einem anderen Redekontext wohl als strafwürdiges Unrecht bewertet werden. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang eine sehr lesenswerte, weil lustige, Entscheidung des Amtsgerichts im baden-württembergischen Ehingen zum sogenannten Götz-Zitat.
epd: Dem scherzhaft „Schwäbischen Gruß“ genannten Ausspruch, den Goethe im „Götz von Berlichingen“ aufgreift, dass ihn der Feind „im A….. lecken“ könne?
Christoph: In der Entscheidung wird recht detailliert dargelegt, warum dieser Ausspruch im schwäbischen Sprachgebrauch eine sozialadäquate Funktion erfüllt, während er in anderen Teilen der Republik als derb, unangebracht und beleidigend eingestuft würde. Auch das Schmähgedicht des Kabarettisten Jan Böhmermanns über den türkischen Präsidenten Erdoğan wäre ohne seinen satirischen Kontext eindeutig eine strafwürdige Beleidigung gewesen.
epd: Was heißt das für politische Reden?
Christoph: Auch bei politischen Reden ist der Rahmen in die Bewertung einzubeziehen. Im politischen Meinungskampf darf verbal mit harten Bandagen gekämpft werden. Und unter dem Schutz der Meinungsfreiheit dürfen Äußerungen getätigt werden, die unter „Normalbürgern“ strafbare Ehrverletzungen darstellen würden. Dabei muss ein Politiker, der mehr austeilt, mitunter auch mehr einstecken können. Es kommt nämlich unter anderem darauf an, ob die Amtsperson durch ihr Verhalten bestimmte Gegenreaktionen provoziert hat: Man spricht vom „Recht zum Gegenschlag“.
epd: Wie lässt sich das Recht auf freie Meinungsäußerung vor Gericht gegen den Schutz vor strafrechtlich relevanter Beleidigung abwägen?
Christoph: Das Bundesverfassungsgericht hat oft betont, wie wichtig die Meinungsfreiheit für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist, gerade auch im politischen Diskurs. Das bedeutet aber nicht, dass es einen Freifahrtschein für Beschimpfungen gibt. Ein Beispiel dafür ist der „Fall Künast“.
epd: Die Grünen-Bundestagsabgeordnete erstritt, dass Facebook ihr die Auskunft über die Nutzerprofile derer nicht verweigern dürfe, die sie auf der Online-Plattform diffamierten.
Christoph: Hier haben die Verfassungsrichter die Wichtigkeit hervorgehoben, zwischen der Meinungsfreiheit einerseits und dem Ehrschutz der Betroffenen andererseits abzuwägen. Vielfach müssen die Gerichte dabei eine Einzelfallentscheidung treffen. Im politischen Meinungs- und Wahlkampf wird das Pendel häufig in Richtung Meinungsfreiheit ausschlagen.
epd: Müssen sich Amtsträger als Personen des öffentlichen Lebens also besonders viel gefallen lassen – gerade, wenn ihnen Unmut aus der Bevölkerung entgegenschlägt?
Christoph: Personen des öffentlichen Lebens und insbesondere Politiker müssen sich Kritik gefallen lassen – und die kann auch harsch ausfallen. Machtkritik zählt zu den wichtigen Elementen unserer demokratischen Ordnung. Gleichwohl regelt das Strafgesetzbuch in Paragraf 188 den besonderen Schutz von Personen des politischen Lebens, die vor Diffamierungen geschützt werden sollen, welche geeignet sind, ihre Arbeit und ihr öffentliches Wirken erheblich zu erschweren. Geschützt sind hier übrigens auch Kommunalpolitiker. Die Vorschrift soll Politiker keineswegs gegen Kritik immunisieren und die öffentliche Debatte abwürgen, sondern das politische Stimmungsklima und die Integrität von Personen schützen, die sich politisch engagieren. Weil sie vom Vertrauen der Bevölkerung in hohem Maße abhängen, sind sie gegenüber ehrverletzenden Angriffen ja besonders verletzlich.
epd: Wo verlaufen rote Linien?
Christoph: Die Grenzen der zulässigen Meinungsäußerung sind dort überschritten, wo es sich bei dem Gesagten um eine „Schmähkritik“ handelt. Erschöpft sich die Äußerung in der bloßen Diffamierung, Beschimpfung und Schmähung des Betroffenen, ohne dass dabei die Auseinandersetzung in der Sache eine Rolle spielt? Dann soll die Meinungsfreiheit hinter den Schutz der Ehre zurücktreten. Gleiches gilt, wenn die Äußerung die Menschenwürde des Betroffenen verletzt. Und auch dann, wenn wissentlich ehrenrührige unwahre Tatsachen über einen anderen behauptet oder verbreitet werden – wenn also gelogen wird.
epd: Die Meinungsfreiheit deckt demnach kein Recht auf Lügen ab?
Christoph: Nein. Betrachten wir beispielsweise Wahlkampfreden des US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump: Einige seiner Äußerungen, insbesondere Diffamierungen seiner Kontrahentin Kamala Harris, würden in Deutschland durchaus in den Bereich des Strafwürdigen hineinreichen. (00/2546/28.08.2024)