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Was Krisen und Kriege mit uns machen – ein Stimmungsbild

In den ersten Wochen nach den Angriffen der Hamas hat sich die Stimmungslage in Deutschland nach Einschätzung von Experten kaum verändert. Die Menschen sorgen sich hauptsächlich um andere Probleme.

Bilder und Videos aus dem Krieg begleiten uns täglich auf Social Media und im Fernsehen
Bilder und Videos aus dem Krieg begleiten uns täglich auf Social Media und im FernsehenImago / Abacapress

Leichen, Trümmer, Bombenhagel: Aus Israel und dem Gazastreifen prallen täglich neue Schreckensmeldungen auf uns ein. Auf Social Media sind Fotos und Videos von Opfern und Kriegsschauplätzen zu sehen. Die Quellenlage ist nicht immer klar, die Reaktionen der Leserinnen und Leser wirken oft emotional. Auf den Straßen machen Menschen mit Demonstrationen ihrer Wut und Trauer Luft.

Im Großteil der Bevölkerung hat sich nach Einschätzung von Psychologen die Stimmungslage durch den Nahostkonflikt bislang aber kaum verändert. Menschen in Deutschland fühlten sich von schlechten Nachrichten zunehmend überfordert, so Stephan Grünewald, Gründer des Marktforschungsinstituts Rheingold. Und das nicht erst seit dem Angriff der Hamas auf Israel: Nachrichten zu Corona-Pandemie, Ukrainekrieg und Inflation ließen die Deutschen demnach abstumpfen.

Gefühl von Ohnmacht, etwa durch Inflation, Viren oder Kriege

“Da ist zum einen die Angst vor einem Autonomieverlust und das Gefühl von Ohnmacht, etwa durch Inflation, Viren oder Kriege”, sagt Grünewald. “Zweitens die Angst vor einem sozialen Klimawandel: Viele Menschen nehmen eine zunehmende Radikalisierung und Entzweiung in der Bevölkerung wahr. Und drittens die Angst vor einem Substanzverlust. Davor also, dass wir zum Beispiel wirtschaftlich und in unserer Infrastruktur hinterherhinken könnten.” In Deutschland wachse deshalb die “resignative Zurückgezogenheit”, sagt Grünewald. “Menschen grenzen die private Welt und die Welt da draußen voneinander ab.”

Auch in der Seelsorge spielt der Nahostkonflikt bislang kaum eine Rolle. “Die meisten Anrufer sprechen über unmittelbare persönliche Probleme wie wirtschaftliche Probleme, psychische Belastungen oder Einsamkeit”, sagt Frank Reuter, Leiter der Caritas-Telefonseelsorge in Hamburg. Im Ukrainekrieg hätten sich in den ersten Wochen noch verängstigte Anrufer gemeldet. Das sei aber relativ schnell wieder abgeflaut. Statistiken der Telefonseelsorge hätten ergeben, dass es auch zum Nahostkonflikt noch keine auffälligen Rückmeldungen gegeben habe.

Erst Schockzustand, dann Normalität

Zum Stimmungsbild in Deutschland seit Kriegsbeginn gibt es noch keine umfassenden empirischen Untersuchungen. Grünewald beobachtet allerdings, dass sich in der Bevölkerung in Krisensituationen immer wieder ähnliche emotionale Muster abspielen. So auch beim Ukrainekrieg: In den ersten Wochen befanden sich Menschen demnach in einem Schockzustand. “Die weitere Entwicklung war noch unsicher”, sagt Grünewald. “Menschen versuchten in diesem ersten Zeitfenster noch, sich intensiv mit dem Thema zu befassen.”

Ukrainer und Deutsche bei einer Demo gegen russische Kriegsverbrechen in München (Archivbild)
Ukrainer und Deutsche bei einer Demo gegen russische Kriegsverbrechen in München (Archivbild)Imago / ZUMA Wire

Wie sich die Stimmungslage danach entwickelt, sei demnach abhängig davon, ob sich der Krieg verstetigt. “Als der Ukrainekrieg zu einem Stellungskrieg erstarrte, wurde er für viele Deutsche zur Normalität”, sagt Grünewald. “Auch die Menschen in Deutschland haben sich deshalb wieder verbuddelt.”

Die Entwicklung des Kriegs in Nahost ist noch ungewiss. Nahost sei zwar weiter weg als die Ukraine. “Zu Israel hat Deutschland eine besondere Verbundenheit”, sagt Grünewald. “Der Konflikt flammt außerdem auch in unseren Innenstädten auf. Das wiederum entfacht unsere beiden größten Ängste: die Angst vor Handlungsunfähigkeit, die Angst vor einem sozialen Klimawandel und einer Entzweiung.”

Welche Verbindung haben wir zu den Betroffenen?

Insgesamt tendierten Deutsche allerdings dazu, sich auf Ängste zu konzentrieren, die sie unmittelbar in ihrem persönlichen Leben berühren. “Menschen können nur an einer Angstfront kämpfen”, sagt Grünewald. “Seelenökonomisch ist das sinnvoll. Wir konzentrieren uns mit unserer Angst auf die Dinge, die uns am nächsten liegen.” Andere Ängste gerieten damit aber in den Hintergrund, so Grünewald. “Nur die Themen, die alltagsrelevant sind, schimmern dann durch den Verdrängungsvorhang noch durch.”

Nicht immer ist Verdrängung möglich. Einige Deutsche kennen Menschen in Israel oder Gaza, die persönlich in Gefahr sind. “Wie wir Bilder wahrnehmen und ob wir Ängste empfinden, hängt davon ab, welche Verbindung wir zu den Betroffenen haben”, sagt Peter Wendl, Traumafachberater und Theologe an der Universität Eichstätt. “Handelt es sich um einen Bekannten, einen Menschen, der mir nahe steht?” Auch der Zeitpunkt spiele eine Rolle. “Am Anfang befinden sich Angehörige in einem Schockmoment. Sie sind dann oft eingebettet in Solidaritätsbekundungen anderer Menschen”, sagt Wendl. “Je länger aber ein Krisenzustand anhält, desto weniger Aufmerksamkeit bekommt er und desto mehr fühlen sich Angehörige allein mit ihren Ängsten.”

“Gezielt und dosiert” Informationen zum Kriegsgeschehen

Wendl rät Angehörigen deshalb dazu, sich möglichst nur “gezielt und dosiert” Informationen zum Kriegsgeschehen zu beschaffen. “Nicht permanent googeln, nicht ständig Nachrichten lesen”, sagt Wendl. “Denn dort wird man unkontrolliert nur immer wieder mit neuen aktuellen Kriegsnachrichten konfrontiert, die weitere Ängste schüren.” Auch das Gespräch mit anderen Menschen könne helfen, Ängste zu mildern. “Muten Sie sich jemandem zu, mit dem Sie sprechen können”, sagt Wendl. “Fragen Sie sich: Welcher Mensch hört mir unvoreingenommen zu und hält es aus mit meiner Angst?”

Auch der Austausch mit den Angehörigen an Kriegsschauplätzen sei wichtig. “Sprechen Sie einmal am Tag miteinander”, sagt Wendl. “Definieren Sie feste Regeln, wann und wie oft Sie einander kontaktieren.” Außenstehende könnten Betroffene und ihre Angehörige unterstützen, indem sie Solidarität zeigen. “Menschen fühlen sich oft unsicher und trauen sich nicht, auf Betroffene zuzugehen, weil sie nicht wissen, wie sie helfen können”, sagt Wendl. “Betroffenen genügt es meistens aber schon, wenn Sie ein Zeichen setzen und ihnen zeigen: ‘Ich bin da.'”