Anschaulich machen, was Armut wirklich bedeutet: Das ist das Ziel eines neuen Armutsberichts, den die Ostbayerische Technische Hochschule (OTH) Regensburg erarbeitet hat und im Mai vorstellen will. Im Vordergrund hätten Gespräche mit Betroffenen und Expertinnen aus der Stadt Regensburg sowie der Zivilgesellschaft gestanden, die Unterstützerprojekte anbieten, sagt die Politikwissenschaftlerin Ina Schildbach im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es gebe enorm viele Hilfsprojekte in der relativ reichen Stadt Regensburg – dennoch änderten sie wenig an der strukturbedingten Armut.
epd: Welches Ihrer Ergebnisse hat Sie am meisten überrascht?
Ina Schildbach: Bei der Durchführung der Interviews sind wir durch Aussagen der Expertinnen und Experten, vor allem aber durch die Gespräche sowie das Verhalten der Betroffenen immer wieder auf zwei Punkte gestoßen: Erstens war fast immer die Rede von eingeschränkten sozialen Kontakten und auch explizit von Einsamkeit, selbstgewähltem Rückzug und Nicht-Inanspruchnahme von Unterstützungsmöglichkeiten. Und zweitens fielen uns häufig ein Ohnmachtsgefühl sowie Resignation im Zusammenhang mit einem beschädigten Selbstwert und Scham auf.
epd: Armut ist demnach nicht nur eine materielle Frage?
Schildbach: Das war für mich ein Lernprozess, dass man dem Begriff Armut nicht gerecht wird, wenn man ihn nur eng betrachtet, weil diese materielle Dimension sich verselbständigt, und Konsequenzen zeitigt in allen anderen Lebensbereichen. Wenn sich ein Armutsbetroffener schämt, zurückzieht, keine sozialen Kontakte mehr pflegt, dann haben wir ein Problem auf der psychologischen Ebene.
epd: Wie sehen die Folgen aus für Menschen, die kaum mehr Kontakt zur Außenwelt zu haben scheinen?
Schildbach: Menschen, die in Armut leben, stecken häufig in einer Art Teufelskreis aus Scham, Rückzug und Vereinsamung mit handfesten Folgen für die Nicht-Inanspruchnahme ihrer sozialen Rechte, der geringeren politischen Partizipation. Personen erzählten uns beispielsweise in den Gesprächen, dass sie ohne ihren Hund nicht mehr auf die Straße gehen würden. Da vermittelt nur noch das Haustier eine Struktur des Tages und gibt einen Grund, ein wenig am Leben teilzunehmen. Es handelt sich hier um einen fatalen Kreislauf, sich wechselseitig verstärkender Faktoren.
epd: Nun gibt es auf kommunaler Ebene und auch aus der Zivilgesellschaft heraus viele Sozialprojekte, die Armutsbetroffenen da unter die Arme greifen wollen.
Schildbach: Ich versuche es an einem Beispiel deutlich zu machen: Eine Armutsbetroffene hatte Karten für die Regensburger Schlossfestspiele von einer sozialen Kartenbörse geschenkt bekommen. Aber die Frau weigerte sich hinzugehen, weil sie das Gefühl hatte, als arm wahrgenommen zu werden. Sie wusste, dass es da informelle Codes gibt, die sie nicht beherrscht. Scham führt folglich oft dazu, dass Menschen sich zurückziehen und nicht trauen, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen, selbst wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen.
epd: Für diese psychosoziale Lage der Betroffenen sind Ihrer Untersuchung zufolge also eher die Gesellschaft und ihre Strukturen verantwortlich?
Schildbach: Der große Punkt ist, dass man sich als Armutsbetroffener nicht als Teil einer Gruppe wähnt. Man steht zwar kollektiv in einer Schlange bei der Tafel an, aber es gibt kein Kollektivbewusstsein, weder fühlt man sich den Strukturen gegenüber noch gibt es überhaupt ein Wir, das dem anderen so gegenübersteht. Wir konnten eher Selbstversagenserklärungen feststellen, das gab es sehr häufig. Obwohl ich in den Interviews nie explizit nach der Bildung gefragt hatte, kam es trotzdem immer wieder zur Sprache: „Ich hätte in der Schule besser aufpassen müssen.“
epd: Suggeriert die Leistungsgesellschaft nicht genau diese Armutsdeutung?
Schildbach: Die Vereinzelung und diese Art der Armutsdeutung hat gesellschaftlich gesehen fatale Folgen. Denn wir haben mit vielen Personen gesprochen, die gesundheitlich ruiniert waren – wegen ihrer Jobs, weil sie den prekärsten Beschäftigungen nachgegangen sind, hatten sie einen kaputten Rücken oder Einschlafstörungen. Immer machten sie sich aber selbst verantwortlich, indem sie sagten, sie seien ungebildet oder hätten es eben nicht gebracht.
epd: Armutsbetroffene Menschen geraten ins Abseits, weil die Gesellschaft ihre Möglichkeiten zur Überwindung der Armut nicht ausschöpft?
Schildbach: Ich würde sagen, dass die gesellschaftlich vorherrschenden Deutungen der Leistungsgesellschaft komplett von Menschen in Armut übernommen werden. Es wird eben nicht verstanden als ein strukturelles Problem, obwohl man mit vielen anderen in der Schlange steht. Armutsbetroffene vergeben sich viel, weil sie sich weder als Gruppe definieren, noch die anderen, noch die Politik identifizieren, die das ändern könnte.
epd: Eine lebendige Demokratie wirkt Extremismus aktiv entgegen, wenn Menschen sich beteiligen können. Hier ist das Gegenteil der Fall.
Schildbach: Aus der Wahlforschung wissen wir, ärmere Menschen gehen seltener wählen. Durch Alternativangebote gehen sie zwar wieder wählen, aber dann eindeutiger rechtspopulistisch. Die in Armut Lebenden scheinen sich großenteils nicht als Bürger eines Gemeinwesens und einer Demokratie zu begreifen. Hier sehen wir noch großen Forschungsbedarf. Es ist eine Ebene, auf der sie offenbar nicht denken. Das Ergebnis war sehr erschreckend, weil man damit auch merkt, dass es wahrscheinlich keine politische Intervention von dieser Seite geben würde.
epd: Armutsbetroffene fühlen sich oftmals bedroht von Migrantinnen und Migranten, weil diese sie vermeintlich in den Tafeln verdrängen würden. Gibt es dafür eine Erklärung?
Schildbach: Wir sahen uns in den Interviews häufiger mit Aussagen konfrontiert, die eine äußerst ausgeprägte Identifikation mit der eigenen nationalen Identität gepaart mit einer Abwertung anderer Staatsangehöriger zeigen. Zumeist standen diese im Kontext einer vermeintlichen Besserstellung der Migrantinnen und Migranten, die angeblich ungerechtfertigterweise profitieren würden, während die eigene Gruppe, die der deutschen, zu kurz käme. In Bezug auf diese Vorurteile wäre meine Erklärung, dass es mit der psychologischen Dimension zusammenhängt, weil damit eine Art Vorrecht als Deutscher geltend gemacht wird. Wenn nichts anderes mehr bleibt, wird sich auf die nationale Identität berufen als das, was einen noch unterscheidet von den anderen. Das ist ein eigenartig verquerer Kampf um Würde. (1267/13.04.2025)