Von Ulrike Trautwein
Wenn ich in diesen letzten Wochen mit meinem Fahrrad durch Berlin gefahren bin, vorbei an den vielen Wahl-Plakaten, dann habe ich zuletzt gar nicht mehr auf die Worte geachtet. Die Versprechen, Warnungen, Appelle. Ich habe nur noch die Gesichter gesehen. Und ich stelle mir vor, wie das sein muss: Jetzt schon wieder die eigene Person in die Waagschale legen. Was werden die Menschen sagen? Wie wird das Urteil ausfallen? Was werden sie mir zutrauen? Überhaupt etwas?
Ich finde das ganz schön mutig. Denn die meisten von ihnen wollen doch etwas Gutes für uns, für die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt. Sie sind bereit, sich mit ihrer Kraft und Zeit für unser Gemeinwesen einzusetzen, diese Stadt zu gestalten.
Was brauchen wir, was braucht Berlin? Wir brauchen Menschen, die neugierig aufeinander sind, die mit Mut und Kraft Haltung zeigen. Die sich für gute Chancen für alle einsetzen. Die im Konkreten zuverlässig sind und zugleich erkennbar das große Ganze im Blick haben.
Wahlen jetzt in Berlin: Nehmen wir es an als eine Chance. Denn das ist es: eine große Chance. Noch mal neu überlegen, welche Ideen und Vorschläge jetzt wirklich wichtig und richtig sind.
Wohnen bleibt Problem
Nach fast einem Jahr Krieg in unserer Nähe, mit so vielen neuen Nachbarn, auf Zeit oder für länger, die vor diesem Krieg zu uns geflüchtet sind – ich bin stolz auf meine Stadt, auf die Menschen, die – typisch Berlin! – Herz gezeigt und Platz gemacht haben für Menschen in Not. Aber jetzt brauchen wir einen langen Atem. Und auch aus anderen Gegenden und Gründen kommen ja Menschen zu uns, auf der Flucht vor anderen Kriegen, oder auch, weil sie gern hier leben möchten. Wie können wir in Zukunft gut miteinander leben, einander kennenlernen und tolerieren? Was braucht es dafür?
Ich denke an Wohnungen. Es bedrückt mich, dass das Wohnen für so viele ein Problem geworden ist. Gerade für die jungen Menschen.
40 Quadratmeter hat jeder Berliner im Schnitt, das macht deutlich, dass manche Menschen sehr viel mehr Platz zum Leben haben, als sie eigentlich bräuchten, andere dagegen sehr unter der Enge ihrer Wohnverhältnisse leiden und etliche erst gar nichts finden mit dem Budget, das sie haben. Und es ist schwer auszuhalten, dass es dabei keine einfachen Lösungen gibt. Ja, Wohnen ist und bleibt die große Herausforderung für die Gestaltung unserer Stadt.
Wir müssen – müssen! – die Stadt ökologisch umbauen. Wie schaffen wir das gemeinsam? Platz für unterschiedliche Verkehrsteilnehmer mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, so, dass man immer auch zu Fuß gehen kann, ungefährdet. Und Bus oder Bahn nehmen kann, möglichst günstig, möglichst zuverlässig. Ich fahre gerne Rad, aber oft nehme ich mein Fahrrad auch, weil ich weiß, dass ich da, wo ich hinmuss, keinen Parkplatz finden werde – noch lieber würde ich Rad fahren, weil es so entspannt und einfach schön ist.
Immer an die Menschen denken
Von unseren künftigen Politikerinnen und Politikern wünsche ich mir, dass sie bei allen Entscheidungen immer an die Menschen denken. An die, die mit den Entscheidungen leben werden, und auch an die, mit denen sie zuvor um diese Entscheidungen ringen. Verächtlichkeit im Umgang finde ich schwer erträglich. Streit und Auseinandersetzung sind gute und wichtige Mittel im demokratischen Findungsprozess, aber bitte ohne Verachtung und Häme!
Davon hatten wir ja auch genug im Vorfeld dieser Wahl. Auch wenn es frustrierend ist, dass da bei der letzten Wahl so viel schiefgelaufen ist – jetzt gilt es einfach, es besser zu machen. Wir Wählerinnen und Wähler können dabei noch mal neu entscheiden. Ich denke dabei aber auch an die vielen Abgeordneten, viele zum ersten Mal dabei, die sich jetzt auf die politische Arbeit eingestellt haben für jedenfalls eine Legislatur, und die ihr Berufsleben vielleicht schon jetzt neu planen müssen. So ist Demokratie, aber ich habe da auch Mitgefühl.
Markige Sätze finde ich eher ärgerlich. Die vermeintlich klaren einfachen Antworten auch – unsere Welt ist vielfältig und kompliziert. Gott sei Dank! Aber ich habe Respekt vor den Menschen, die sich jetzt zur Wahl stellen. Und wenn ich mir überlege, wie ich diesen Respekt am besten zeigen kann, schon, weil ich es extrem wichtig finde, dass wir achtsam umgehen mit unserer mühsam erworbenen Demokratie, dann gilt für diesen Wahlsonntag auf jeden Fall: Hingehen und wählen!
Ulrike Trautwein ist Generalsuperintendentin des Sprengels Berlin.