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Was bleibt von der Kirche vor Ort, Herr Meyns?

Die Kirche im Braunschweiger Land steht vor tiefen Einschnitten. Der ehemalige Landesbischof Christoph Meyns erklärt im Interview, wie es weitergehen soll.

Kirche wird nicht mehr überall präsent sein: Christoph Meyns hinterlässt eine Kirche im Wandel.
Kirche wird nicht mehr überall präsent sein: Christoph Meyns hinterlässt eine Kirche im Wandel.epd-bild/Jens Schulze

Die Landeskirche in Braunschweig steht vor tiefen Einschnitten, die sie von Grund auf verändern werden. Manche Entscheidungen sind bereits getroffen, andere stehen noch aus. Ist die Kirche noch Herr des Verfahrens oder wird sie wie ein Boot im Sturm getrieben?
Christoph Meyns: Ich habe nicht das Gefühl, dass wir getrieben werden und dass alles untergeht. Aber wir müssen uns an veränderte Umstände anpassen, und das tun wir.

Wie ist die Kirche bisher vorgegangen, um mit der Entwicklung um sie herum Schritt zu halten?
Schon 2010 hat die Landessynode erste Sparbeschlüsse gefasst und seitdem alle fünf Jahre überprüft, wie sich Einnahmen und Ausgaben entwickeln. Sie hat die Zielzahlen für Pfarrstellen laufend nach unten korrigiert und die Verteilung von Diakonen und Kirchenmusikern per Gesetz der Zahl der Gemeindemitglieder angepasst. Wir haben geschaut, was nötig ist, ein bisschen gewartet und dann immer wieder vorsichtig angepasst.

Vielleicht haben wir uns an solche Einschnitte gewöhnt. Nun soll aber in den kommenden zehn Jahren ein Drittel der Pfarrstellen wegfallen. Das klingt dramatisch.
Das ist nicht dramatischer als die Einschnitte bisher. Als ich vor elf Jahren Bischof wurde, waren 220 Pfarrpersonen im Dienst unserer Landeskirche, jetzt haben wir 198. Das sind zehn Prozent weniger in zehn Jahren.

Diesmal geht es um ein Drittel der Stellen, das ist noch mehr.
Es ist schon länger klar, dass das kirchliche Leben in seiner traditionellen Form an ein Ende kommt. Wir werden laut Prognosen bis 2035 inflationsbereinigt etwa 30 Prozent weniger Geld haben. Seit Anfang der 1990er-Jahre war diese Entwicklung absehbar. Jetzt haben wir einen Stand erreicht, wo die klassische Struktur der Ortsgemeinden und die damit verbundenen Arbeitsformen einfach nicht mehr tragen.

Was soll nach der Ortsgemeinde kommen?
Seit 2015 haben wir die Pfarrstellen regionalisiert. Wir haben jetzt drei bis sechs Pfarrpersonen, die für eine Region das Pfarramt bilden. Im Grunde ist der nächste Schritt, dass wir auch die Gemeinden regionalisieren.

Es geht um neue Strukturen kirchlicher Arbeit. Aber die sind noch offen. Wie steht es um inhaltliche Schwerpunkte?
Es geht immer um drei Elemente, Rückbau, Umbau und eine inhaltliche Neuorientierung. Und die steht im Braunschweiger Land noch aus. Noch ist nicht entschieden, wie viel Geld in die Arbeitsfelder fließen soll, die ortsbezogen sind, und wie viel in die allgemeinkirchliche Arbeit. 2010 hatte die Landessynode eine deutliche Priorität gesetzt, nämlich bei den Kirchengemeinden vor Ort und den Pfarrstellen. Aber diese Prioritätensetzung muss gegebenenfalls angepasst werden, weil sich die Gesellschaft verändert hat.

Da sind viele Entscheidungen, die noch ausstehen. Gibt es eine ungefähre Vorstellung, wie die Kirche der Zukunft aussieht?
Wir sind in einer Phase, in der wir sehr genau hinhören müssen, was der Herr von uns will. Außerdem müssen wir auf den Kontext schauen und fragen, was die Menschen bewegt und wo für sie die befreiende Kraft des Evangeliums liegen könnte. Dazu wird es von der Landeskirche keine einheitliche Antwort geben, die für alle gilt, sondern die Leitungsorgane in den Regionen sollen gemeinsam mit multiprofessionellen Teams, die aus fünf bis zehn Stellen bestehen, selbst entscheiden, welche Schwerpunkte sie setzen.

Die Kirche in Vechelde wird also ganz andere Angebote machen als die Kirche in Goslar?
Ja, ich würde vor allem Stadt und Land unterscheiden. Die Propsteien Braunschweig und Salzgitter als Großstädte auf der einen Seite und auf der anderen Seite Regionen wie der Raum Gandersheim und Seesen mit sehr landwirtschaftlich geprägten, strukturschwachen Gebieten. Das sind die beiden Extreme. Da wird man nicht zu einheitlichen Entscheidungen kommen.

Welche Veränderungen kommen auf die Propsteien zu?
Die Frage ist, was für eine Organisationsstruktur braucht es über die 30 bis 40 multiprofessionellen Teams hinaus zur Koordination und Verteilung von Ressourcen. Das werden wir nicht zentral von Wolfenbüttel aus machen können. Stattdessen sollen nach dem Vorbild anderer Landeskirchen vier oder fünf neue Regionen gebildet werden, die größer sind als unsere bisherigen elf Propsteien und mehr Entscheidungskompetenz haben. Da sprechen wir von 40 000 Mitgliedern pro Einheit.

Dazu gibt es ein Eckpunktepapier, das gerade mitten in der Diskussion ist, und eine AG Struktur, die alle Rückmeldungen sammelt. Ich bin gespannt, was die Landessynode im November vor dem Hintergrund dieser Rückmeldungen beschließen wird. Dabei werden auch einige offene Fragen geklärt werden müssen.

Welche Fragen sind das?
Die Gemeinden fragen sich, was wird aus unserem Vermögen, unseren Gebäuden und unserem Land? Und es stellen sich viele praktische Fragen der Umsetzung.

Das ist ein ziemlich dickes Brett.
Ja! Die Frage jetzt ist, was aus den bisherigen Kirchengemeinden wird. Wenn wir uns die Zahlen von 2040 angucken, dann macht es eigentlich keinen Sinn, die jetzigen Strukturen zu erhalten. Deswegen sind wir mit einem radikalen Vorschlag in die Diskussion gegangen, dass die neuen „Propsteien“, „Kirchenkreise“, „Regionalgroßgemeinden“, „Kirchspiele“, oder wie immer die neuen Organisationseinheiten heißen werden, auf der Grundlage von Satzungen und damit sehr flexibel das kirchliche Leben organisieren können. Sie können Ortsgemeinden bilden und ihnen Personal und Budget zuweisen. Sie können auch Regionen bilden oder Arbeitsfelder. Faktisch ändert sich dann vielleicht vor Ort gar nicht so viel.

Was bleibt von der Kirche vor Ort, vor allem in kleinen Orten?
Das Ideal wäre, in jedem Dorf arbeitet eine Pfarrperson, wohnt im Pfarrhaus und macht ihre Arbeit. Aber das hat es auch im Braunschweiger Land nie durchgängig gegeben, sondern auch immer viele Pfarrrverbände. Jetzt ist es so, dass wir Menschen an ihrem Wohnort immer weniger erreichen, und deswegen müssen wir uns umstellen. Wir müssen wegen des Traditionsabbruchs, der seit mindestens 50, 60 Jahren in der gesamten Gesellschaft um sich greift, sehr viel missionarischer werden. Wir müssen noch stärker fragen. Wo sind die Orte, an denen wir Menschen gut erreichen?

Was ist Ihre Vision von Kirche, vorausgesetzt diese Transformation gelingt?
Das ist ein Geflecht von kirchlichen Orten unterschiedlicher Form, die gut miteinander vernetzt sind. Dazu gehören Ortsgemeinden, Regionen, allgemeinkirchliche Arbeitsfelder, Bildungseinrichtungen, die Kreisstellen der Diakonie. Ehrenamtliche werden noch wichtiger sein, als sie es heute schon sind. Es wird eine gute Mischung von Menschen geben, die sich engagieren. Wir können vielleicht nicht mehr überall präsent sein, aber da, wo wir sind, machen wir gute Arbeit.