Artikel teilen:

Warum eine Schulleiterin ein Mindestalter für Smartphones will

Nach Australien plant nun auch Österreich ein Handyverbot an Schulen. Auch hierzulande warnen Fachleute, dass junge Menschen abstumpfen und sich schlechter konzentrieren können. Ein Gespräch über mögliche Reaktionen.

Kinder, die Kinderpornos weiterleiten – genauso wie Bilder von Kriegsverbrechen, Suiziden oder Tierquälerei: Dies sei “verstörender Alltag im Klassenchat”, sagt Schulleiterin Silke Müller. Um über das Phänomen aufzuklären, hat die Digitalbeauftragte des Landes Niedersachsen ein Buch geschrieben. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit der Pädagogin einer Oberschule in Hatten im Landkreis Oldenburg über Mobbing-Videos, sexuelle Belästigung von Kindern im Netz und warum ihrer Meinung nach das Beste ein Mindestalter von 16 Jahren für die Smartphone-Nutzung wäre.

KNA: Frau Müller, warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Silke Müller: Das Buch ist letztlich der Höhepunkt einer ganz langen Reise mit Erfahrungen in sozialen Netzwerken und den krassen Einblicken, die ich und mein Kollegium hatten. Ich will damit ein Bewusstsein dafür schaffen, dass unsere Kinder und Jugendlichen in ihrem Alltag und ihrer Lebenswelt durch die negativen, mehr und mehr verrohenden Entwicklungen im Netz so gefährdet und beeinflusst sind wie nie zuvor.

KNA: Zeigen die Kinder Ihnen, was sie sich gegenseitig schicken?

Müller: Kinder sind als Heranwachsende natürlich oft grenzüberschreitend unterwegs. Das heißt, man muss ihnen Gesprächsangebote machen und darf nicht direkt verteufeln, was sie tun. Und dann zeigen sie einem manchmal die Dinge, die sie posten. Im Grunde gibt es kaum noch Konflikte unter Schülern, die nicht mindestens medial begleitet sind. Also die Kinder streiten sich ganz normal und das wird dann verbal weitergeführt über Whatsapp oder es wird ein Video aufgezeichnet und zum Mobbing benutzt.

KNA: Können Sie ein Beispiel geben?

Müller: Ja, folgender Fall: Da haben ein paar Mädchen von einem anderen Mädchen, das sie nicht mögen, einen sogenannten Prank (englisch: Streich) gemacht: Das ist ein Video, in dem man jemanden hochnimmt. Also haben sie ihr in der Mensa Mayo ins Gesicht geschmiert und das gefilmt, um es ins Netz zu stellen. Und dann schaut man sich diese Mädels an, ganz normale Zwölfjährige, und fragt sich: Welch Geistes Kind seid ihr? Wie kommt ihr auf diese Idee?

KNA: Was glauben Sie, was der Grund ist?

Müller: Unsere Kinder sind durch die Sozialen Medien massiv beeinflusst – und das betrifft eben auch das Mitgefühl. Man könnte etwa entgegen: ‘Die Faszination des Grausamen oder Pornografie als Geschäftsmodell sind doch vermutlich so alt wie die Menschheit selbst.’ Das stimmt zwar. Dass aber junge Menschen, die ihre Moral- und Wertvorstellungen erst entwickeln müssen, so leicht Zugang zu menschlichen Abgründen – und zwar 24 Stunden täglich – haben, ist eben nicht immer schon so gewesen.

KNA: Was hat das für Konsequenzen?

Müller: Es ist etwa zu beobachten, dass Kinder und Jugendliche nicht zwangsläufig mit Verängstigung auf grausame Bilder reagieren. Teilweise konsumieren sie gedankenlos, leiten teils strafbare Dinge gleichgültig weiter und ignorieren im Grunde das klare Signal, dass andere öffentlich gedemütigt oder gequält werden. Diese Verrohung ist wirklich besorgniserregend.

KNA: Wie reagieren die Eltern?

Müller: Viele Eltern sind gestresst und so verharmlosen sie das Ganze oder verdrängen es. Viele kennen sich auch einfach nicht genug aus und wissen gar nicht, was für Bilder die Kinder zu sehen bekommen. Und oft sind sie selbst auch keine guten Vorbilder, wenn sie ständig im Netz unterwegs sind.

KNA: Wie groß ist das Problem Ihrer Einschätzung nach insgesamt?

Müller: Meiner Erfahrung nach ist es leider Teil der Jugendkultur, dem sich kein Kind oder Jugendlicher ganz entziehen kann – und zwar unabhängig von der Schulform. Selbst wenn man selbst kein Smartphone besitzt, besteht jederzeit die Möglichkeit, dass man entsprechende Bilder auf den Geräten der Freunde sieht.

Wir müssen unsere Kinder also viel besser darauf vorbereiten, dass es gewaltverherrlichende oder pornografische Bilder im Netz gibt oder dass da auch Pädophile unterwegs sind. Vor allem müssen sie wissen, dass sie sich immer ohne Scham an die Eltern wenden können. Sie dürfen keine Angst haben, Ärger zu bekommen – denn dann werden sie nicht sagen, wenn sie so etwas gesehen haben.

KNA: Wie groß ist die Gefahr des Cyber-Groomings, bei denen sich Erwachsene auf Plattformen als Jugendliche ausgeben, um im Netz sexuellen Kontakt zu Kindern zu bekommen?

Müller: Sehr hoch, besonders bei Tiktok. Cyberkriminologen gehen mittlerweile davon aus, dass jedes Kind in seinem Internetleben einen solchen Annäherungsversuch erleben wird. Auch das zeigt, auf was für einer unkontrollierbaren Datenautobahn die Kinder unterwegs sind.

KNA: Ihre Idealvorstellung sind Jugendliche, die erst mit 16 ihr eigenes Smartphone bekommen. Reicht Aufklärung nicht?

Müller: Wir haben wirklich tolle Präventionsprogramme. Aber am Ende des Tages reicht das tatsächlich nicht. Und wenn das so ist, dann muss man zu radikaleren Schutzmaßnahmen kommen. Fünftklässler oder manchmal noch jüngere Kinder haben teilweise schon ihr eigenes Smartphone. Und die sind seelisch wirklich noch sehr verletzlich, wenn sie mit grausamen Inhalten konfrontiert werden.

Wenn wenigstens diese sehr jungen Kinder kein eigenes Smartphone besäßen, hätten sie zumindest keinen Zugang in dieser intensiven und völlig unkontrollierten Form. Am liebsten wäre mir zum Beispiel auch, Tiktok einfach abzuschalten, weil es so gefährdend ist. Da würde natürlich sofort von Zensur gesprochen. Über die Schule allein – zum Beispiel durch ein eigenes Unterrichtsfach Medienpädagogik – wird sich das Problem aber nicht lösen lassen.

KNA: Warum nicht?

Müller: Zum Beispiel sind die Kinder an meiner Schule wirklich super informiert. Wenn man die auf dem Schulhof fragen würde, würden sie die exakt rechtlich korrekte Antwort geben – und trotzdem anders handeln, wenn sie unbegleitet sind. Sie empfinden das Netz oft als rechtsfreien Raum. Ich will das Internet nicht verteufeln. Aber wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Debatte über Medienethik.