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Warum Bildung auch für demenzerkrankte Menschen sinnvoll ist

Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Demenz; viele fürchten die Erkrankung. Doch Betroffene können sogar Neues hinzulernen – etwa bei einem Projekt der Katholischen Erwachsenenbildung in Hessen.

Wer erinnert sich daran, als Deutschland 1974 Weltmeister wurde? Welche Nahrungsmittel gab es in der Zeit? Welche Kleidung trugen die Leute? Eine Gruppe Männer und Frauen, alle an Demenz erkrankt, haben sich bei der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) Hessen in Fulda versammelt – für einen Workshop zum Thema “Generationen”. Sie schauen sich Fotos von den Sportereignissen an und erzählen, was sie mit der Zeit verbinden. Ein Mann entdeckt den damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel auf einem der Bilder und fängt an zu singen: “Hoch auf dem gelben Wagen.”

Das Konzept für die Workshops stammt von Ulrich Dreismickenbecker. Er ist Gesundheits- und Bildungsexperte sowie Theologe. Bildung für Menschen mit Demenz? Was soll das bringen? “Sehr viel”, sagen Verantwortliche der KEB und haben daher das Projekt “Demenz – Bildung durch Teilhabe”, kurz “DeBit” gestartet. Die Zusammenarbeit mit der Katholischen Akademie Fulda und dem Hessencampus Fulda lief ein Jahr, jetzt ist sie abgeschlossen. Das Projekt wurde vom Land Hessen gefördert.

Angesichts des demografischen Wandels sieht der Vorsitzende der KEB Hessen, Johannes Oberbandscheid, ein “Riesenthema”. Derzeit leben in Deutschland fast 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, Tendenz steigend. Oberbandscheid möchte mit “DeBit” auch eine gesellschaftliche Diskussion anregen: “Wir stellen uns gegen eine defizitäre Perspektive und schaffen neue Perspektiven.”

Ulrich Dreismickenbecker hat für das Programm mehrere Themenbereiche ausgesucht: Heimat, Liebe, Glaube, Geschichte, Grenzen und Generationen. Vier Pflegeeinrichtungen haben sich beteiligt. Gruppen von fünf bis acht Menschen mit dementiellen Erkrankungen sind für die Workshops zu Seminarhäusern gefahren; die Teilnahme war freiwillig.

Bei Fortbildungen von Pflegefachkräften betont der Theologe immer wieder, wie wichtig die Teilhabe der Menschen am öffentlichen Leben ist. Als die KEB Hessen ihrerseits Demenz ins Programm aufnehmen wollte, entstand die Idee, nicht nur über betroffene Menschen zu sprechen, sondern sie mit einzubeziehen. “Oft ist Demenz ein Ausschlusskriterium für die Teilhabe an Veranstaltungen”, sagt Dreismickenbecker. “Wir möchten den öffentlichen Raum für sie öffnen. Hier hat die Kirche auch einen gewissen Auftrag.”

Mit Pausen haben sich die Teilnehmenden drei Stunden lang mit ihren jeweiligen Themen beschäftigt. “Das war erstaunlich. Die Menschen waren insgesamt sehr reflektiert”, berichtet der Gesundheitsexperte. “Manche, die im Pflegeheim eher zurückhaltend sind, waren sehr aktiv. Sie haben auch das Mittagessen mit anderen Besuchern gegessen und das hat sehr gut geklappt. Wir beobachten jetzt weiter, ob sich unser positiver Eindruck bestätigt.”

Seiner Ansicht nach fördert das Programm die Gesundheit. “Wir schauen nicht auf die Defizite, sondern darauf, was die Person noch kann. Sie fühlen sich ernst genommen. Ihre Kommunikation wird angeregt. Die Workshops bilden einen Rahmen, in dem sie gut erzählen können.”

Dreismickenbecker weist darauf hin, dass es bei den Workshops weniger um die Vermittlung bestimmter Kompetenzen und Qualifikationen geht als um die Förderung von Entwicklungsprozessen. Bis ins hohe Alter seien kognitive, emotionale, sozialkommunikativen und alltagspraktischen Fähigkeiten vorhanden – auch bei Menschen mit einer dementiellen Erkrankung. Bildungsangebote, Musik und Bewegung stärkten diese Eigenschaften nachweislich.

Dreismickenbecker freut sich, dass das Projekt weiterhin Unterstützung von der Politik erhält. Mit einer geeigneten App etwa könnten die Teilnehmenden vom Pflegeheim aus über ein Tablet weiterarbeiten. Ihm ist es zudem wichtig, dass Menschen mit Demenz, die zu Hause gepflegt werden, teilnehmen können. “Die Angehörigen könnten dann sehen, was ihr Vater oder ihre Mutter noch kann. Das wäre ein sehr positives Erlebnis”, erklärt Dreismickenbecker und fügt hinzu: “Ich habe selbst viel von diesen Menschen gelernt – zum Beispiel weiß ich jetzt sehr viel über Fulda und seine Geschichte.”