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Wankelmutig zur nächsten Unentscheidung?

Viele Menschen suchen lange ihren Platz im Leben – manche wollen sich nie festlegen. Für sie ist die Entscheidungsfreiheit ein hohes Gut. Andere dagegen sehen in Verlässlichkeit „fast ein Geschenk des Himmels“

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„Ja. Oder lieber nicht? Ich weiß nicht, vielleicht doch das andere.“ Wer sich nicht entscheiden kann, liegt bekanntlich im Trend: Die Unfähigkeit, klar und deutlich Ja oder Nein zu sagen und sich daran zu halten, gilt als typisch für unsere Zeit. Was fehlt, ist Verbindlichkeit. Was will man mit Festlegungen auch anfangen in Zeiten scheinbar unbegrenzter Möglichkeiten? Die Verbindlichkeit steht im Ruf, altmodisch zu sein.

Wer flexibel handelt, tut es nicht immer freiwillig

Immer wieder hört man Beispiele wie diese: Einladungen werden erst angenommen und dann kurzfristig abgesagt. Verabredungen sind nicht fix. Auf eine Ehe oder eine langfristige Beziehung lassen sich viele gar nicht oder erst spät ein. Dasselbe gilt für etwaigen Nachwuchs. Man sitzt auf gepackten Koffern in einer spärlich möblierten Wohnung, weil der Job mal hier und mal dort ist. Viele Menschen suchen lange ihren Platz.
Die einen finden das gut und können sich kein anderes Lebensmodell vorstellen. Sie preisen die Fülle an Möglichkeiten und die Freiheit. Es kann aber auch sein, dass die Befürworter das so sagen, weil sie aus diesem Zustand nicht herauskommen und sich ihm fügen. Denn wer flexibel handelt, tut es nicht immer freiwillig – Stichwort befristete Arbeitsverträge oder andere prekäre Lebensverhältnisse.
„Nein, Verbindlichkeit ist nicht altmodisch“, sagt der Psychologe Peter Groß aus Köln. „Sie ist enorm wichtig.“ Für ihn ist sie ein „Schmiermittel“ des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Und nicht nur dort: In juristischen und geschäftlichen Zusammenhängen sei ein Handeln ohne Verbindlichkeit beziehungsweise Verlässlichkeit kaum denkbar. Dort sei der Begriff keinesfalls ausgehöhlt.
„Verbindlichkeit ist ein Sich festlegen, und das ist das Dilemma“, betont Groß. „Denn es entsteht eine Entscheidungsunsicherheit.“ Dabei steht für ihn fest, dass jeder immer aus „Verträgen“ herauskommt – soll heißen, im schlimmsten Fall und größter Not könnten Beziehungen beendet oder noch nicht abbezahlte Häuser wieder verkauft werden.
Wenn jemand sich nicht entscheiden kann, kann das Groß zufolge mit mangelnder Sicherheit und fehlender Selbstliebe zusammenhängen. In Beziehungen spielten Bindungsängste eine Rolle. „Zu einer Entscheidung braucht man Kraft und Entschlossenheit. Das Nein-Sagen ist eine Kunst und erfordert eine gewisse Selbstsicherheit.“ Eine Entscheidung muss nichts mit tief empfundener Verbindlichkeit zu tun haben: Nicht selten täten Menschen das, was von ihnen erwartet werde – aus Angst, sonst nicht geliebt zu werden, erklärt Groß.
Und noch ein Charakterzug kann der Verbindlichkeit im Weg stehen, sagt der Psychologe: mangelndes Vertrauen. Wer grundsätzlich misstrauisch sei, sei am Ende ein einsamer Mensch, der sich so wenig wie möglich festlegen wolle. Er sei dann „sicher, aber lebendig eingemauert“.
Aber steht die Verbindlichkeit der Freiheit oder Selbstverwirklichung tatsächlich so sehr im Wege? Auf der einen Seite legt Verbindlichkeit fest, auf der anderen Seite entlastet sie aber auch, wie der Psychologe erläutert. Man verbrauche weniger Energie, wenn man sich endlich entschieden habe. „Wir leiden ohnehin allgemein an zu vielem Denken.“
Der Autor Maximilian Probst, der in diesem Jahr ein Buch mit dem Titel „Verbindlichkeit“ veröffentlicht hat, stellt fest: „Nie war es schwieriger, sich zu entscheiden.“ Entscheidungen seien oft nur vorläufig. Die Zahl der Optionen wachse ins Unermessliche – sogar das Geschlecht eines Menschen könne medizinisch geändert werden.
Zugleich konstatiert er: „Es lassen sich aber auch Anzeichen einer gegensätzlichen Entwicklung entdecken, Anzeichen einer Sehnsucht nach Verbindlichkeit.“ Nanu? Um gleich zu ergänzen: „Diese Sehnsucht, das macht das Thema so spannend, ist allerdings nicht unproblematisch. Oft schwingt in ihr ein kulturpessimistischer Unterton mit.“

Sehnsucht nach Verlässlichkeit

Probst ist dennoch ein Verfechter der Verbindlichkeit, es komme ihm so vor, als sei sie „fast ein Geschenk des Himmels“. Sie habe in Zeiten, in denen man sich meist frei entscheiden könne, einen neuen Wert bekommen. Anders als Treue, die Ewig-keit wolle, bedeute die Verbindlichkeit ein „hartes Bemühen – das aber zum Ende hin offen ist“.
Klingt fast so, als ob sich möglicherweise auch Freunde des Mäanderns mit dieser Definition arrangieren könnten. Zumal Probst einmal in einem „Spiegel“-Interview nachlegte: „Entscheidet man sich für Verbindlichkeit, überlässt man sich dem, was da kommt.“ Eine solche Passivität werde in der „aktivistischen Kultur“ unterschätzt. „Es ist ein Wert an sich, nicht zu wissen, was passiert.“
Und Probst hat eine Empfehlung an die Politik: eine vorhandene Sehnsucht nach Verlässlichkeit ernst nehmen und sie nicht Populisten überlassen. Parteien müssten zeigen, welche Ziele sie wie erreichen wollten – „dabei aber klarmachen, dass sie auch scheitern können“.