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Vor 15 Jahren wurden die Missbrauchsfälle in der Kirche publik

15 Jahre ist es her, dass der Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg bekannt wurde und weite Kreise zog. Viel ist inzwischen passiert – doch viele bemängeln, das sei immer noch zu wenig.

An einem Januartag im Jahr 2010 machen sich in Berlin drei Männer, alle Mitte 40, auf den Weg in ihre frühere Schule, das katholische Canisius-Kolleg. Sie haben einen Termin mit dem Schulleiter, Jesuiten-Pater Klaus Mertes. Sie wollen mit ihm darüber sprechen, was ihnen vor Jahrzehnten in der Einrichtung angetan wurde, wie sie von zwei Patres bedrängt und missbraucht wurden. Dass sie an diesem Tag eine Lawine lostreten, ist wohl keinem bewusst.

Mertes versichert den Männern, ihren Schilderungen zu glauben. Rund eine Woche später schreibt er einen Brief an ehemalige Schüler der 1970-er und 80-er Jahre und ruft sie auf, sich zu melden, wenn ihnen Ähnliches widerfahren ist. Am 28. Januar berichtet die “Berliner Morgenpost” zuerst über das Schreiben.

In den kommenden Wochen melden sich mehr als 100 ehemalige Schüler. Und auch an anderen – nicht nur kirchlichen – Schulen werden Fälle publik. Schnell wird klar, dass das Ausmaß immens ist. Und dass Kirche und Politik handeln müssen. Die katholische Kirche setzt mit dem Trierer Bischof Stephan Ackermann einen Missbrauchsbeauftragten ein, der auch am von der Bundesregierung einberufenen Runden Tisch sitzt. Matthias Katsch, einer der drei Schüler, die sich zuerst gemeldet hatten, gründet zusammen mit anderen Betroffenen die Initiative Eckiger Tisch.

Seitdem ist viel passiert: Die katholische Kirche verschärfte ihre Leitlinien zur Prävention und zum Umgang mit Missbrauchsfällen mehrmals, Betroffene können zudem eine Anerkennungszahlung beantragen. Die Bischöfe gaben eine Studie zum Missbrauch in der Kirche in Auftrag. Die Zahlen waren erschreckend: Demnach wurden 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe von mindestens 1.670 Priestern und Ordensleuten in den Akten von 1946 bis 2014 gefunden.

Es folgten viele Studien aus einzelnen Bistümern. Eine unabhängige Aufarbeitungskommission legt Anerkennungsleistungen für Betroffene fest. Vor ziemlich genau einem Jahr legte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihre Studie vor, auch dort lag die Zahl der Missbrauchsopfer bei mehreren Tausend.

Auch die Politik beließ es nicht bei den Empfehlungen des Runden Tisches: Auf die schnell eingesetzte erste Missbrauchsbeauftragte, die frühere Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD), folgte 2011 Johannes-Wilhelm Rörig. Er berief einen Betroffenenrat. Zudem initiierte er eine unabhängige Aufarbeitungskommission. Seine Nachfolgerin ist Kerstin Claus, selbst Betroffene in der evangelischen Kirche. Seit 2019 achtet ein Nationaler Rat mit Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft darauf, dass Beschlüsse und Vorgaben umgesetzt werden.

Opfer von sexuellem Missbrauch haben inzwischen auch mehr Rechte vor Gericht. So brauchen sie bei einem Prozess nicht mehrfach auszusagen. Zudem wurden die zivilrechtlichen und vor wenigen Wochen auch die strafrechtlichen Verjährungsfristen bei Missbrauch verlängert. Außerdem wurde das Opferentschädigungsgesetz reformiert, so dass jetzt auch Betroffene von sexueller Gewalt leichter Hilfe und Unterstützung bekommen können. Gegen Kinderpornografie im Internet verschärfte die Bundesregierung ebenfalls die Gesetze.

Ein Gesetz, dass das Amt der Missbrauchsbeauftragten aufwerten und Betroffenen mehr Rechte etwa auf Akteneinsicht zubilligen sollte, wird in dieser Legislaturperiode voraussichtlich nicht mehr verabschiedet. Um das Ausmaß von Missbrauch besser zu erfassen und mehr zu tun, um sexuelle Gewalt zu verhindern, ist eine Dunkelfeldstudie geplant. Dafür soll es eine bundesweite Befragung von Schülern und Schülerinnen geben.

Trotz dieser Maßnahmen sind die Zahlen weiter sehr hoch. Jedes Jahr werden nach Angaben des Bundeskriminalamtes mehr als 17.000 Kinder unter 14 Jahren Opfer sexualisierter Gewalt. Neben den geschaffenen Strukturen sind es die Betroffenen selbst, die an dem Thema dran bleiben und einfordern, Kinder besser zu schützen und Betroffenen stärker zu helfen. Katsch gründete mit dem Eckigen Tisch inzwischen eine Beratungsstelle, die vom Bund gefördert wird. Er und Mertes – beide erhielten vor drei Jahren für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz – wollen am Dienstag anlässlich des Jahrestags erneut vor die Presse treten und für die Anliegen der Betroffenen werben.