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Vom Sklavenhändler zum Kämpfer gegen Sklaverei

„Amazing Grace“ ist eines der meist gesungen englischen Hymnen. Man kann sogar sagen, dass das Lied, das John Newton (1725-1805) schrieb, zu einer Art „geistlichen Nationalhymne Amerikas“ wurde: Von einem früheren Sklavenhändler geschrieben, machte sich die afroamerikanische Gemeinde das Lied zu eigen, vor und auch nach der Befreiung der Sklaven in den USA.

Gospelgrößen wie Mahalia Jackson verschafften dem Lied, das auf innige Weise die Gnade Gottes besingt, ein noch größeres Publikum: Es erklang während der Bürgerrechtsbewegung, in den Jahren des Vietnamkriegs, und immer dann, wenn Menschen in Zeiten von Schmerz und unerträglichem Unglück ein Gebet um Gnade brauchten – zum Beispiel nach den Terroranschlägen des 11. September 2001.

Im Buch „Die Melodie der Gnade“, das nun auf Deutsch im Hänssler-Verlag in Holzgerlingen (Kreis Böblingen) erschienen ist, erkunden Bruce Hindmarsh, Professor für Geschichte des Christentums und Theologie am Regent College in Vancouver, und der britische Buchautor Craig Borlase die Geschichte, die hinter dem Lied steckt. Auch wenn die Biografie Newtons im Romanstil geschrieben ist, sei sie keine Fiktion, betonen die Autoren, sondern basiere auf Newtons Autobiografie, seinen Tagebüchern, Briefen und Schriften.

Wer das Buch liest, kann kaum glauben, was John Newton alles erlebte: Als Sohn eines britischen Kapitäns hatte er bereits als 15-Jähriger vier Seereisen hinter sich. 1744 wurde er von der Marine zwangsrekrutiert. Nach einer missglückten Flucht als Deserteur wurde er schwer bestraft, konnte dann aber als Steward zum Sklavenschiff Levant wechseln. Als deren Kapitän starb, unterstützte er einen Sklavenhändler in Sierra Leone bei seiner Arbeit. Doch dessen afrikanische Frau, die das Sagen hatte, verachtete John Newton und sorgte dafür, dass er sein Dasein noch schlechter als einer der Sklaven fristen musste.

Ein Händler befreit ihn und bietet ihm die Aufsicht über einen seiner Handelsposten an. Obwohl er auf diesem ein gutes Leben führt, reist er auf Wunsch seines Vaters zurück nach England. Auf der Rückreise gerät das Schiff in Seenot. Dass er diese überlebt, ist für ihn ein Zeichen Gottes: Ab 1748 wendet er sich wieder intensiv dem christlichen Glauben zu und heiratet wenig später seine Jugendliebe Mary.

Doch sein Glaube hält ihn nicht davon ab, weiter den Sklavenhandel zu unterstützen: Als erster Offizier und später als Kapitän unternimmt er drei Fahrten, auf denen er laut Logbuch 468 afrikanische Männer, Frauen und Kinder kauft, von denen 68 bereits auf dem Schiff sterben.

Ein Schlaganfall sorgt dafür, dass er mit dem Handel aufhören muss. Zehn Jahre arbeitet er am Hafen von Liverpool, bis er seinen Glauben zum Beruf macht: 1764 wird er zum anglikanischen Priester geweiht. In dieser Zeit dichtet er mehrere Lieder. Sein bekanntestes Lied „Amazing Grace“ entsteht, als er sich auf die Neujahrspredigt 1773 vorbereitet. „Ich war blind, doch nun sehe ich“, heißt es dort.

So war es bei Newton auch beim Blick auf die Sklaverei: „Gewohnheit, schlechte Vorbilder und Eigeninteresse hatten mich verblendet“, schrieb Newton später, um zu erklären, warum er sich erst 30 Jahre nach seiner aktiven Zeit im Sklavenhandel gegen die Sklaverei wandte. In dieser Zeit veränderte sich die Stimmung in der Gesellschaft: Es entstand der Abolitionismus, eine Bewegung, die sich gegen den Sklavenhandel wandte. In einem Essay schrieb Newton 1788: „Es gibt nichts, das so ungeheuerlich, so grausam, so bedrückend und zerstörerisch ist wie der afrikanische Sklavenhandel.“

Newton war auch derjenige, der den britischen Parlamentarier William Wilberforce maßgeblich dazu bewegte, gegen die Sklaverei aktiv zu werden. Er wurde zu einem Pastor und Mentor für Wilberforce, der nach einem Treffen mit Newton schrieb: „Der allmächtige Gott hat mir zwei große Ziele gesetzt – die Unterdrückung des Sklavenhandels und die Reform der Sitten.“

John Newton starb am 21. Dezember 1807. Neun Monate vor seinem Tod wurde das von Wilberforce eingebrachte Gesetz verabschiedet, das britischen Schiffen jegliche Beteiligung am Sklavenhandel verbot. Doch es sollte noch bis zum 26. Juli 1833 dauern, bis die Sklaverei vollständig abgeschafft war und die letzten Sklaven freigelassen wurden.

Kurz vor seinem Tod soll Newton zu einem Freund gesagt haben: „Mein Gedächtnis ist fast ausgelöscht. Aber ich erinnere mich an zwei Dinge: Dass ich ein großer Sünder bin und dass Christus ein großer Erlöser ist.“ (1428/15.06.2025)