Auf seiner Frühjahrstagung vermaß die Evangelischen Akademie Tutzing unter dem Titel “Deutsche Einheit, deutsche Teilung – 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg” Zustand und Herausforderungen der Demokratie.
Der Politische Club der Evangelischen Akademie Tutzing hatte sich viel vorgenommen in diesem März, knapp 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der sich daraus für beide Deutschlands so unterschiedlich ergebenden Geschichte. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung grätschte dann auch noch die ganz aktuelle Welt in das Tagungsgeschehen im gelben Schloss von Tutzing. Exakt vier Wochen nach den Bundestagswahlen, bei der die AfD deutschlandweit zur zweitstärksten Kraft wurde, und befeuert von den in Echtzeit verfolgten Ereignissen in der Ukraine, Gaza, Israel und den USA, wurde der seit 1954 bestehende Politische Club bei der Frühjahrstag seinem Namen vollauf gerecht.
Es ging um den historischen Blick, die Entwicklung der demokratischen Institutionen, aber auch um die Voraussetzungen der bundesrepublikanischen Demokratie und ihren aktuellen Zustand in Ost und West. Angesichts der AfD-Erfolge forderte der Publizist und TV-Moderator Michel Friedmann, die Politik der anderen möge sich nicht immer “so klein machen”. Bevor die AfD in den Bundestag kam, hätten alle gesagt, so eine Partei käme nie in den Bundestag.
Friedmann nannte die AfD “Partei des Hasses”. Als die CDU kurz vor den Wahlen mit der AfD stimmte, trat das ehemalige CDU-Präsidiumsmitglied aus seiner Partei aus. Jetzt ist die AfD schon seit drei Legislaturperioden dabei und die stärkste Oppositionspartei. Das liegt laut Friedmann nicht allein an der Lage in den östlichen Bundesländern, “die AfD ist nicht nur ein Problem des Ostens, sondern der “gleichgültigen, gelangweilten Demokratie” auch und gerade im Westen der Republik. “Ich bin ein Handlungsreisender”, sagte Friedmann, “in meinem Köfferchen ist das Grundgesetz, das verkaufe ich mit leuchtenden Augen. Und ich verstehe nicht, warum ich in so viele tote Augen sehe, wenn es um die Freiheit geht.”
Denn obwohl sich vor allem im Westen der Republik in den Jahrzehnten ab den 1950er Jahren durch die Emanzipation der 1968er und die erste sozialliberale Koalition unter Willy Brandt so viel bewegte, stünden die Zeichen auf Rückschritt. “Wir waren schon mal weiter”, meinte auch der Enkel des ersten Bundespräsidenten, Ludwig Theodor Heuss, der für viele im Politischen Club den stärksten Eindruck hinterließ. Dabei ist für den Chefarzt aus Zürich, der diese Außenperspektive mit der Innenperspektive als Vorsitzender der Stuttgarter Theodor-Heuss-Stiftung und als Mitglied im Kuratoriums der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung verbindet, die “imaginäre Mauer der Beziehungsnetzwerke zwischen West und Ost noch intakt”.
Und so stehe Deutschland vor einer Situation, in der die Erfolge der AfD und ein wahrnehmbarer Rechtsruck nicht nur einen normalen Ausschlag des politischen Pendels in die andere Richtung bedeuteten. “Das Pendel ist heute abgefallen, der Grundkonsens ist gekündigt”, konstatierte Heuss: “Wir stehen ratlos vor dem Bankrott der politischen Bildungsarbeit der vergangenen Jahrzehnte – obwohl sich Deutschland hier wie kein anderes Land engagiert hat.” Gleich nach 1989 sei im Osten zudem viel versäumt worden, die materielle (Ab-)Sicherung habe verständlicherweise im Vordergrund gestanden. Doch auch im Westen bröckelt die Akzeptanz der Demokratie und ihrer Institutionen.
Aber wie kann das angehen, wenn man, wie der Autor Marco Martin es formulierte, “solange man keine gesundheitlichen oder privaten Probleme hat, nicht an der Demokratie leidet”, ja eigentlich nicht leiden kann? Martin hielt ein leidenschaftliches Plädoyer gegen sattsam bekannte gegenseitige Vorwürfe, nennt die ehemalige DDR aber dennoch eine “neiderfüllte, schizophrene, xenophobische Gesellschaft”. Die offenbar auch weiter nachwirke – denn nicht die Alten wählten in den ostdeutschen Ländern überdurchschnittlich AfD, sondern die Jungen.