Von Natalia Matter (epd)
"Ich bin kein Extremist", hatte Cardenal noch im vergangenen Dezember auf einer Konferenz in Mexiko gesagt. "Demokratie zu verlangen ist kein Extremismus." Das richtete sich an den nicaraguanischen Präsident Daniel Ortega, den zu kritisieren der katholische Dichter nicht müde wurde. Cardenals einstiger Kampfgefährte für die Befreiung Nicaraguas von der Somoza-Diktatur regiert seit Jahren autoritär. "Was Ernesto Cardenal vor der Repression schützt, die andere Kritiker bedroht, ist seine Bekanntheit im Ausland", sagte der Musiker Roberto Deimel, ein langjähriger Freund Cardenals.
Der kämpferische Literat war schmächtig geworden in seinen letzten Lebensjahren, sein schlohweißes Haar dünner, für mehr als ein paar Schritte brauchte er einen Rollstuhl. Doch so, wie er weiter entschieden und öffentlich für seine Überzeugungen wie Gerechtigkeit und Solidarität eintrat, arbeitete er auch weiter. Zuletzt erschien das Langgedicht "Hijos de las estrellas" (Kinder der Sterne) in einer illustrierten Ausgabe. "Er schreibt immer weiter", sagte seine langjährige Assistentin Luz Marina Acosta bei der Vorstellung des Buches 2019. "Es scheint, als hätten wir den Dichter noch eine Weile."
Doch schon vor rund einem Jahr erschien das anders: Eine Niereninfektion zwang Cardenal, der in Nicaraguas Hauptstadt Managua lebte, zu einem längeren Krankenhausaufenthalt. Dort erreichte ihn die Nachricht, auf die er Jahrzehnte gewartet hatte: Der Vatikan hob die Sanktionen gegen ihn auf. Wegen seiner Beteiligung an der ersten Regierung nach der sandinistischen Revolution in Nicaragua hatte Johannes Paul II. Cardenal 1985 von seinen priesterlichen Ämtern enthoben. Er durfte keine Messen mehr halten und keine Sakramente erteilen. Johannes Paul II. war ein vehementer Gegner der Befreiungstheologie, die sich für die Benachteiligten und Armen einsetzt.
"Die Nachricht seiner Rehabilitierung hat ihm so gutgetan, dass er sich erholt hat", sagte Deimel, der über Jahre Cardenals zahlreiche Auftritte in Deutschland organisiert hat. In der Bundesrepublik hatte der Dichter eine treue Fangemeinde. "Tatsächlich ist er zuerst in Deutschland bekannt geworden und dann in Lateinamerika", berichtete Deimel. Einige Werke wie das autobiografische "Verlorenes Leben" (Vida Perdida) erschienen zuerst auf Deutsch.
Seine ersten literarischen Versuche, meist elegische Liebesgedichte, machte Cardenal in seiner Zeit im Jesuitenkolleg. Danach studierte der Sohn wohlhabender Eltern Literatur in Nicaragua, Mexiko und den USA und engagierte sich in der revolutionären Bewegung. 1954 entkam er nur knapp einem Massaker. Ein "mystisches Erlebnis" bewegte ihn dazu, 1957 in ein Trappistenkloster in den USA einzutreten. "Die Liebe zur Schönheit der Mädchen führte mich zur Liebe zu Gott, Schöpfer aller Schönheit", sagte Cardenal.
Während seines Theologiestudiums entstanden die Psalmen, die zu seinen wichtigsten Werken gehören. Darin klagte er Gewalt, Diktatur und Habgier an und äußert doch Zuversicht auf Gottes Schutz. Aber er erlaubte sich auch Zweifel: "Wie lange noch Herr, wirst Du neutral sein?/Wie lange teilnahmslos zusehen?"
1966 kehrte er nach Nicaragua zurück, wo er die Gemeinschaft von Solentiname mitbegründete, die im "Evangelium der Bauern von Solentiname" zu Literatur wurde. Mit Beginn der Revolution 1977 floh Cardenal und wurde Sprecher der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN. Nach dem Sieg 1979 der Sandinisten war er bis 1987 Kulturminister. 1980 erhielt er für sein Engagement den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – nur eine von zahlreichen Auszeichnungen.
Nach zunehmenden Meinungsverschiedenheiten mit Ortega verließ Cardenal 1994 die sandinistische Bewegung. Seitdem litt er unter den Entwicklungen in seinem Land. Doch sein fragiler Gesundheitszustand erlaubte ihm kaum mehr seine geliebten Reisen ins Ausland.
Trauermesse für nicaraguanischen Dichter Ernesto Cardenal gestört
Oaxaca de Juárez/Managua (epd). Anhänger des nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega haben am Dienstag (Ortszeit) die Trauermesse zu Ehren des Dichters und Befreiungstheologen Ernesto Cardenal gestört. Berichten mehrerer lokaler Medien zufolge riefen die Sympathisanten der Regierung in der Kathedrale der Hauptstadt Managua "Wir wollen Frieden", aber auch "Verräter" und "Es lebe Daniel".
Die Störer hätten sich noch vor der Ankunft des Sarges auf einer Seite des Gotteshauses niedergelassen. Die Kathedrale sei in die mit schwarz-roten Halstüchern gekleideten Anhänger Ortegas und die in den Farben der Opposition – Blau und Weiß – auftretenden Regierungsgegner gespalten gewesen. Auch die Predigt des Bischofs von Matagalpa, Rolando Àlvarez, sei gestört worden, berichtete die Tageszeitung "La Prensa".
Nach dem Tod des Dichters, katholischen Priesters und Revolutionärs Ernesto Cardenal am vergangenen Sonntag hatte die Regierung eine dreitägige Trauer angeordnet. Cardenal hatte sich schon seit langem von der regierenden Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) losgesagt. Aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber Ortega und seiner Frau Rosario Murillo, denen er Korruption und Machtkonzentration vorwarf, wurde er seit Jahren staatlich verfolgt.
In den 70er Jahren unterstützte Ortega die FSLN im Kampf gegen den Diktator Anastasio Somoza, nach dessen Sturz 1979 bekleidete er für die Partei acht Jahre lang das Amt des Kulturministers. Cardenal zählte zu den wichtigsten Dichtern Nicaraguas. Weltweit erlangte er Berühmtheit, weil er zu den führenden Vertretern der Befreiungstheologie zählte, mit der sich lateinamerikanische Geistliche in den 60er Jahren auf die Seite der Armen stellten. Er starb am vergangenen Sonntag im Alter von 95 Jahren