Der Platz ist ideal. Ohne Unterlass strömen Menschen an Kurt vorbei, der auf einer Brücke in den Bremer Wallanlagen neben seinen Habseligkeiten hockt, die er rechter Hand aufgetürmt hat. Vor dem 59-jährigen ehemaligen Kfz-Mechaniker steht ein Pappbecher, in dem sich schon ein paar Münzen angesammelt haben. Seit 15 Jahren lebt Kurt auf der Straße. Die Brücke ist sein Stammplatz. Hier bettelt er, ganz ohne Worte. „Wenn jemand was geben will, dann gibt er schon“, sagt er.
Wie Kurt betteln immer mehr arme und obdachlose Menschen in Deutschland, zunehmend auch aus südosteuropäischen Ländern. Wie viele es genau sind, das weiß niemand. „Es gibt Leute, die sagen: Aber nicht für Alkohol, hol dir ein Brot“, berichtet Kurt, der öfter mal einen Döner oder ein Gyros vom Imbiss ein paar Meter weiter zugesteckt bekommt. „Ich kann kein Gyros mehr sehen“, seufzt er und erzählt, dass er schon beklaut worden sei. „Die greifen einfach in den Becher und laufen weg.“ Außerdem wurde ihm sein Becher auch schon mehrmals kaputt getreten. Kurt ist auf „seiner“ Brücke wie an einem Arbeitsplatz präsent. Manchmal schon ab 6 Uhr morgens, teilweise bis zu zwölf Stunden. Die Bettelei gibt seinem Tag Struktur.
„Sitzung machen“, nennt das Marina, die sich gegen den Begriff „Betteln“ wehrt, weil er für sie abwertend, würdelos klingt. Unweit von Kurt hat sie für sich und ihre jugendliche Mischlingshündin Baffy in der Fußgängerzone eine Decke ausgebreitet. „Ich hab immer einen Hund an meiner Seite, ich kann gar nicht anders“, sagt die Frau, die seit 45 Jahren mit Vierbeinern zusammenlebt. Dafür nimmt sie in Kauf, auch für die Rechnung des Tierarztes auf der Straße betteln gehen zu müssen.
Wird bekämpft: aggressives und organisiertes Betteln
Juristisch ist das Betteln um Almosen seit 1974 grundsätzlich erlaubt. Damals fiel der entsprechende Verbotsparagraph im Strafgesetzbuch. Doch es gibt Ausnahmen. Aggressives Betteln zum Beispiel ist nicht erlaubt – wenn jemand bedrängt, festgehalten oder berührt wird. Auch die Bettelei in Begleitung von Kindern oder durch Kinder unter 14 Jahren ist untersagt. „Das ist manchmal schon Nötigung“, sagt Bremens Obdachlosen-Seelsorger Harald Schröder.
Viele Kommunen haben dem Betteln unter Vortäuschen körperlicher Behinderungen und dem organisierten Betteln den Kampf angesagt. München hat eine entsprechende Allgemeinverfügung für die Altstadt erlassen. Bei Verstößen können die Behörden beim Verwaltungsgericht eine „Ersatzzwangshaft“ beantragen, die bis zu vier Wochen dauern kann. Erlaubt ist dagegen das, was Kurt tut: „Stilles Demutsbetteln“ heißt das im Amtsdeutsch.
„Bettler gehören zum Bild der Städte“, sagt Schröder, der regelmäßig Menschen wie Kurt und Marina besucht. Und er meint auch zu wissen, warum Bettler bei manchen Zeitgenossen Aggressionen auslösen: „Bettelnde Menschen ‚stören‘, weil sie die Armut sichtbar werden lassen, die in unserer Gesellschaft oft übersehen wird. Die Begegnungen mit Bettlern sind unbequem. Not tritt vor die eigenen Augen und für einen Moment ins eigene Leben.“
Bettelei deshalb aber flächendeckend und grundsätzlich zu verbieten, das sei „weder erforderlich noch angemessen“, widerspricht Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund entsprechenden Forderungen. Eine Kriminalisierung helfe nicht gegen die Ursachen. Gleichwohl findet es Landsberg richtig, wenn Kommunen über Ortsgesetze und andere lokale Regelungen gegen aggressives Betteln und den Einsatz von Kindern etwa bei organisierter Bettelei vorgehen. Auch der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, hält nichts davon, bettelnde Menschen aus den Städten zu verdrängen. Auch sein Blick fällt auf die Ursachen. Da geht es um Armut und um die weiter auseinanderdriftende Schere zwischen Arm und Reich.
Ein Grund für das zunehmende Betteln im ansonsten reichen Deutschland ist die Zahl der Wohnungslosen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt ihre Zahl in ganz Deutschland auf rund 335 000. Bis 2018 prognostiziert der Verband einen weiteren Zuwachs um 200 000 wohnungslose Menschen. „Dass es für sie genügend staatliche, kirchliche oder sonstige Hilfsangebote gibt, das stimmt schon lange nicht mehr“, sagt Seelsorger Schröder.