Kriegsflüchtlinge befinden sich oft in einer prekären Situation. Das spiegelt sich in der steigenden Zahl ukrainischer Prostituierter. Ein Streetworker erklärt, wie Frauen gelockt werden und welche Rolle Freier spielen.
“Sie sind nach Deutschland gekommen, um hier eine legale Arbeit aufzunehmen. Stattdessen wurden sie gegen ihren Willen zur Prostitution gebracht.” So lautet der erste von zehn Punkten auf einer Handreichung des Heimatministeriums Nordrhein-Westfalen. Weiter geht es mit folgendem Satz: “Sie wurden bedroht, geschlagen, eingesperrt und kontrolliert.” Oder: “Sie sprechen unsere Sprache nicht und fühlen sich hier fremd.”
Es ist eine Art Checkliste für potenzielle Opfer von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung oder Zwangsprostitution. Sie vermittelt einen Eindruck, wie die Lage von Zwangsprostituierten aussehen kann: dass Betroffenen womöglich der Ausweis oder das Aufenthaltsdokument abgenommen wurde; dass sie gezwungen wurden, verdientes Geld abzugeben, “um zum Beispiel Schulden oder Reisekosten abzubezahlen” oder dass ihnen gesagt wurde, weder Polizei noch andere Institutionen könnten ihnen helfen. Jeder Punkt auf der Liste ist auch auf Ukrainisch übersetzt.
Nach Einschätzung von Fachleuten ist die Zahl ukrainischer Frauen in der Prostitution in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren deutlich angestiegen. “Die Nachfrage nach Ukrainerinnen ist groß, deshalb wächst auch das Angebot”, sagt Streetworker Gerhard Schönborn von der Hilfsorganisation Neustart im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Schönborn kennt nach eigenen Worten nicht wenige Bordelle, in denen vor dem 24. Februar 2022 vorwiegend Rumäninnen und Bulgarinnen gearbeitet hätten, die mittlerweile zum größten Teil durch Ukrainerinnen ersetzt worden seien. Auch bei der sogenannten aufsuchenden Beratung treffe er vermehrt auf Ukrainerinnen. Fast alle von ihnen seien seit Februar 2022 aus ihrem Land geflüchtet.
“Mit dem Einmarsch der russischen Truppen waren die Freierforen voll mit Kommentaren wie ‘Endlich kommt Frischfleisch'”, schildert der 62-Jährige, der seit 20 Jahren Prostituierte unterstützt. In einem besonders beliebten Forum namens “AO-Huren” fanden sich Schönborn zufolge mit einem Mal Hunderte Einträge, wo sich Freier auf die neuen Ukrainerinnen in den Bordellen freuten. “Es ist auffällig, dass Ukrainerinnen unter Freiern einen besonders guten Ruf haben.” In Bewertungen der Attraktivität oder Willigkeit der Frauen, die die Freier online vornehmen, seien neben Russinnen und Baltinnen Ukrainerinnen “hoch im Kurs”.
Den Eindruck, dass sich die Anzahl ukrainischer Personen in der Prostitution merklich erhöht habe, teilt auch der Stuttgarter Verein Sisters. “In der deutschen Prostitutionsindustrie werden vor allem diejenigen ausgebeutet, die in einer großen Notlage sind und wenig Möglichkeiten haben, sich Zwängen zu entziehen”, erklärt eine Sprecherin. Daher habe der Zuwachs der ukrainischen Frauen in der Prostitution den Verein nicht erstaunt – und er habe von Beginn an mit verstärkten Informations- und Ausstiegsangeboten für diese Frauen reagiert.
Einen besonders starken Anstieg hat es in Berlin gegeben. Laut Erhebungen der Meldestelle Probea hat sich die Zahl ukrainischer Frauen in der Prostitution seit Februar 2022 in der Hauptstadt versechsfacht. Nach aktuellem Stand sind demnach 153 Personen aus der Ukraine in der Sexarbeit gemeldet und besitzen eine gültige Anmeldebescheinigung. Im Februar 2023 waren es offiziell 139 gewesen, im Februar 2022 noch 24 ukrainische Personen.
Repräsentativ für Deutschland ist dieser Anteil nicht: Nicht nur ist in Großstädten wie Berlin die Prostitution erfahrungsgemäß besonders verbreitet. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die Hauptstadt auch zu einem zentralen Ankunftsort und neuen Lebensmittelpunkt für Geflüchtete aus der Ukraine geworden und hat sich auch zu einem wichtigen Transitort und Drehkreuz zur Weiterreise entwickelt. Dabei sind laut Berliner Senatsverwaltung für Frauen und Gleichstellung rund zwei Drittel der Menschen, die aus der Ukraine nach Berlin geflohen sind, weiblich.
Der Trend spiegelt sich jedoch bundesweit wider, wenngleich weniger stark: Laut Erhebungen des Statistischen Bundesamtes nach dem Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) zum Jahresende 2022 ist die Zahl ukrainischer Prostituierter “deutlich gestiegen”. Knapp 470 ukrainische Prostituierte waren demnach damals in Deutschland angemeldet. Ende 2021 waren es noch 180 gewesen. Das entspricht einem Gesamtanteil von 1,65 Prozent aller angemeldeten Prostituierten. Wohlgemerkt: der angemeldeten.
Insgesamt wurden bundesweit zum Jahresende 2022 etwa 28.280 Anmeldungen von Prostituierten und 2.310 Prostitutionsgewerbe bei den Verwaltungsbehörden registriert. Experten schätzen die tatsächliche Zahl aber auf 250.000 Personen in der Prostitution.
Obwohl die Dunkelziffer also um ein Wesentliches über den offiziellen Zahlen liegt, geben diese aus Sicht von Ausstiegshelfer Schönborn doch zumindest eine Richtung an. Eine Anmeldung beweise aber nicht die Freiwilligkeit der Arbeit. Auch angemeldete Frauen könnten sich unter Zwang prostituieren, merkt er an: So hätten Zuhälter ein Interesse, dass die Frauen sich anmeldeten, weil sie dadurch erst in Bordellen arbeiten könnten.
“Wir wissen, dass Google-Suchen nach Sex-Diensten ukrainischer Frauen und Mädchen in die Höhe geschossen sind”, hatte der ehemalige Experte für Menschenhandel bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE Andrea Salvoni noch im September vergangenen Jahres in einer Dokumentation erklärt. Die Daten zeigten, dass es für Menschenhändler einen Anreiz gebe, in großem Umfang Frauen und Mädchen anzuwerben, weil sich mit ihnen Geld verdienen lasse.