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Trauer und Traumata

Schon früh kam Han Kang in Kontakt mit Literatur. Im Haushalt, in dem die 1970 Geborene aufwuchs, waren Bücher stets präsent, denn ihr Vater Han Seung-won ist ein bekannter südkoreanischer Schriftsteller. Und so erzählt sie immer wieder, welche Einflüsse sie geprägt haben: „Als ich noch ein Teenager war, habe ich bereits Kafka gelesen. Ich glaube, Kafka ist ein Teil dieser Welt geworden. Ich liebe seine Bücher.“ Nun ist Han Kang, im Gegensatz zu ihrem Vorbild, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden.

1981 zog die Familie von ihrer Geburtsstadt Gwangju in die Hauptstadt Seoul. An der dortigen Yonsei University studierte sie koreanische Literatur. Sie war Mitte 20, als erste Gedichte und kurze Prosatexte erschienen und erste Literaturpreise sie darin bestärkten, den Beruf der Schriftstellerin zu ergreifen.

Nicht nur die Literatur hat für frühe, intensive Eindrücke gesorgt, auch politische Ereignisse in Südkorea prägten Han Kang und ihr Schaffen. Wer ihren Erfolgsweg studiert, wird unweigerlich auf ein historisches Ereignis in Gwangju stoßen, das sie nicht persönlich miterlebte, deren Umstände und Folgen sie aber tief beeindruckten. 1980 lebten die Südkoreaner noch unter einer Militärregierung, die erst 1987 durch ein parlamentarisch-demokratisches System abgelöst wurde. Gwangju war das Zentrum von Protesten. Sie wurden blutig unterdrückt, von bis zu 2.000 Toten ist die Rede.

Später bekannte Han Kang: „Ich war zwölf Jahre alt, als ich einen Fotoband über die Massaker in die Hände bekam, der im Untergrund zirkulierte. Ich habe dort eine ungeheure menschliche Brutalität gesehen, aber genauso menschliche Würde und Stärke. Ich erinnere mich an eine riesige lange Schlange von Menschen, die Blut spenden wollten für die Verwundeten der Massenschießerei.“

Über die Massaker habe sie nie direkt schreiben wollen, aber in ihren Romanen und Erzählungen geht es um Gewalt und Gewalterfahrungen, sowohl im privaten Leben als auch in Politik und Gesellschaft. So ist es auch nur folgerichtig, dass sie, laut Begründung der Stockholmer Jury, den Nobelpreis bekommt „für ihre intensive poetische Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens darstellt“.

Seit Ende der 90er Jahre erschienen Romane und Erzählungen in schneller Folge: „Schwarzer Hirsch“ (1998), „Die Früchte meiner Frau“ (2000), „Die Geschichte der purpurnen Blume“ (2003). Für den internationalen Durchbruch sorgte dann ihr Roman „Die Vegetarierin“ (2007), der in mehr als 25 Sprachen übersetzt, 2009 verfilmt und für das renommierte Sundance Film Festival nominiert wurde.

Darin geht es um eine Frau, die beschließt, Vegetarierin zu werden und deswegen verfolgt und drangsaliert wird. Schließlich zieht sie sich in eine Traumwelt zurück, in der sie sich in einen Baum oder Pflanzen verwandelt – eine koreanische Version von Kafkas „Verwandlung“, urteilten die Kritiker unisono. Dieser Roman bescherte ihr 2016 nach der Übertragung ins Englische den Man Booker Preis, was ihr Leben grundlegend veränderte. Fortan wurden ihre Bücher international übersetzt, und sie gilt nun als eine führende Stimme der südkoreanischen Literatur. Derzeit lehrt Han Kang Kreatives Schreiben in Seoul.

Mit „Die Vegetarierin“ hat sie auch endgültig zu dem Stil gefunden, den sie in „Griechischstunden“ (2011, deutsch 2024), „Ewiges gelbes Muster“ (2012) oder „Weiß“ (2016, deutsch 2020) variieren sollte. Groteske, surreale, ‘kafkaeske’ Motive mit Erfahrungen von Gewalt und Leid. Von einem „Strudel aus Brutalität und Zärtlichkeit“ hat die Filmemacherin Doris Dörrie gesprochen, Katja Nicodemos schrieb in der „Zeit“: „Han Kang gelingt etwas fast Unmögliches: für das Grauen eine literarische Form zu finden, die es nicht verharmlost, sondern umfängt.“

In „Menschenwerk“ (deutsch 2017) schrieb Han Kang über eine Mutter, die ihr Kind verloren hat und nicht weiß, wie sie nach diesem Verlust weiterleben soll; in „Griechischstunden“ geht es um eine Frau, der die Erblindung droht. Die Nobelpreisjury hat 2024 eine Autorin ausgezeichnet, die wie kaum eine andere Trauer und Traumata, Gewalt und die Macht der Phantasie in sehr dichten, emotional intensiven Büchern eingefangen hat.