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Tradition nicht infrage gestellt

Der Streit ist zunächst beigelegt: Kirchen und Behörden wollen enger zusammenarbeiten. Dafür verzichten die Behörden vorläufig auf eine Verschärfung der Abschiebefristen

Rolf Zöllner

BERLIN/DÜSSELDORF – In der Auseinandersetzung über das Kirchenasyl (siehe UK 7 und 8/2015) haben sich Behörden und Kirchenvertreter auf einen Kompromiss verständigt. Die Kirchen sollen in einem sechsmonatigen Pilotprojekt Fälle, die in einem Kirchenasyl münden könnten, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) überprüfen lassen. Das gaben Vertreter beider Seitennach gemeinsamen Gesprächen bekannt. Das Bundesamt verzichtet im Gegenzug darauf, die Abschiebefrist für die besonders umstrittenen Dublin-Fälle zu verlängern.
Der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei Regierung und Parlament, Martin Dutzmann, sagte in Berlin, es sei gelungen, die Wogen im Streit um das Kirchenasyl zu glätten. Das Kirchenasyl sei eine christlich-humanitäre Tradition, „auf die wir sehr viel Wert legen“, sagte der frühere lippische Landessuperintendent. Gleichzeitig unterstrich er, das Kirchenasyl sei kein Instrument, das über dem Recht stehe.

Keine „systematische Kritik“ am Asylrecht

Das Bundesinnenministerium bestätigte den Verzicht auf die Verlängerung der Abschiebefrist. Diese werde „erst einmal nicht diskutiert“, sagte ein Sprecher. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) erklärte, beide Seiten hätten sich darauf verständigt, dass die Gewährung von Kirchenasyl nur in Einzelfällen bei „begründbaren und belegbaren besonderen Härten“ in Betracht komme. Die Tradition des Kirchen­asyls werde nicht infrage gestellt, doch solle mit dem Mittel nicht das Ziel verfolgt werden, eine „systematische Kritik“ am EU-Asylrecht zu üben.
Hintergrund der Auseinandersetzung ist die stark steigende Zahl von Kirchenasylen in Deutschland. Gegenwärtig sind mindestens 411 Flüchtlinge in Kirchengemeinden untergebracht, unter ihnen 125 Kinder. Die Zahl hat sich seit Anfang 2014 fast versiebenfacht. De Maizière hatte den Kirchen vorgeworfen, sich mit ihrer Praxis über geltendes Recht zu stellen. Die meisten der Menschen im Kirchenasyl fallen unter die Dublin-Bestimmungen (siehe Kasten unten). Für mögliche Abschiebungen gilt eine Frist von sechs Monaten. Weil diese häufig überschritten wird, drohte das BAMF, die Frist auf 18 Monate heraufzusetzen. Dies würde das Kirchenasyl für Gemeinden erheblich erschweren.
Dutzmann betonte, dass auch künftig jede Gemeinde selbstständig über die Aufnahme von Asylbewerbern entscheide. Die Gemeinden gingen damit verantwortungsvoll um. Für die Kirchen sei das Kirchenasyl kein Instrument, um das Dublin-Verfahren infrage zu stellen oder zu unterlaufen. Um das Verfahren zu kritisieren, nutze man politische Kontakte, sagte Dutzmann.
Die evangelischen Kirchen in Nordrhein-Westfalen begrüßten den Kompromiss. Es sei gut, dass das Kirchenasyl als bewährte christlich-humanitäre Tradition bestätigt wurde, erklärte die westfälische Präses Annette Kurschus in Bielefeld. Der rheinische Präses Manfred Rekowski hob hervor, dass bis zum Herbst Zeit sei, die neue Kommunikationsstruktur zwischen Kirchen und Behörden einzurichten und zu erproben.
Anders die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“: Sie äußerte sich zwiespältig zu dem Kompromiss. Sie begrüße, dass die Tradition des Kirchenasyls vom Bundesinnenministerium und der dazugehörigen Behörde, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, nicht länger infrage gestellt werde, erklärte das Netzwerk am vergangenen Montag in Berlin. Sie beobachte aber mit großer Sorge, „dass es sich hier lediglich um einen Aufschub handelt“.
Das Kirchenasyl bewegt sich in einer rechtlichen Grauzone. Zumeist tolerieren die Behörden bisher das Handeln der Gemeinden. Fälle, in denen Menschen gewaltsam aus dem Kirchenasyl geholt und abgeschoben werden, sind selten. epd