Artikel teilen:

Strukturen aufbrechen

Ehrenamt im Zentrum des neunten Treffens von Länder-, Wirtschafts- und Gewerkschaftsvertretern mit der Bundeskanzlerin. Migrantenorganisationen erstmals mit am Tisch

Rolf Zoellner

Berlin – Engagiert in der Flüchtlingshilfe, im Nachbarschaftsverein, in der Feuerwehr: Das Ehrenamt ist auch unter Menschen mit Migrationshintergrund zunehmend ein Renner, wie eine aktuelle Studie zeigt. Und das, obwohl Migranten dabei oft höhere Hürden zu überwinden haben. Ihre Organisationen sind neu „am Markt“, das Reinkommen für manche schwer. Beim neunten Integrationsgipfel in Berlin ging es um bessere Möglichkeiten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Gastgeberin des Treffens, forderte eine Öffnung der Strukturen für Menschen mit Migrationshintergrund. Man müsse dafür sorgen, dass auch ihre Verbände dort vertreten sind.
Merkel verwies auf den Bericht eines Teilnehmers, der gezeigt habe, dass es für die Migrantenorganisationen beispielsweise schwierig sei, in den Bundesfreiwilligendienst hineinzukommen. Da gebe es „bestimmte Erbhöfe“, sagte Merkel. Sie wolle aber, „dass alle eine faire Chance bekommen“. Konkrete Absprachen gab es bei dem Treffen aber nicht.
Merkel sagte, beim Bundesfreiwilligendienst sei es nicht ein Problem der Plätze. Sie verwies auf die extra geschaffenen Kapazitäten für die Flüchtlingshilfe. Von 10 000 Plätzen seien erst 6000 belegt. Hier könnten Migranten besonders gut helfen, unterstrich auch die Inte­grationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD). Sie verfügten über Sprach- und kulturelle Kenntnisse. Die Flüchtlingshilfe sei ein starker Impuls für gesellschaftliche Teilhabe, sagte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu.
Bei dem Treffen ging es aber nicht nur um das freiwillige Engagement, sondern auch um die Chancen im Beruf. Özoguz forderte einen verbesserten Zugang von Migranten zum öffentlichen Dienst und schlug „Zielmarken“ vor. „Der Bund sollte sich eine Zielmarke setzen, die sich am Bevölkerungsanteil der Menschen mit Migrationshintergrund von 21 Prozent orientiert“, sagte Özoguz und verwies auf entsprechende Vorbilder in Hamburg und Berlin, die sich freiwillige Quoten gesetzt hatten. Zu festen gesetzlichen Quoten äußerte sich Özoguz zuvor skeptisch.
Zuvor hatten Migrantenorganisationen, die erstmals in dieser Form mit am Tisch des Gipfels saßen, Forderungen für mehr Teilhabe präsentiert. Darunter war auch der Vorschlag, Förderung von Vielfalt ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, bezeichnete dies anlässlich des Integrationsgipfels als „sehr klugen Vorschlag“. Der Staat könne mehr tun, um Migran­ten besser zu fördern, sagte sie. „Dazu gehören auch mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Verwaltungen“, sagte Lüders. Der Grünen-Politiker Volker Beck forderte, interkulturelle Kompetenz und Mehrsprachigkeit als Qualifikationen höher zu bewerten. Seine Parteikollegin Kordula Schulz-Asche plädierte dafür, Migrantenselbstorganisationen und deren Vernetzung mit anderen stärker zu fördern. Özoguz hatte mit einem Ehrenamts-Projekt bereits einen Anstoß dazu gegeben.
Die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen vermisste beim Integra­tionsgipfel indes den „großen Wurf“ und kritisierte, Integration dürfe nicht ins Ehrenamt abgeschoben werden. Nach dem am Tag des Integrationsgipfels bekannt gewordenen „Freiwilligensurvey“ engagieren sich auch Migranten stark im Ehrenamt. Rund 31 Prozent von ihnen seien als Freiwillige tätig, berichtete die „Passauer Neue Presse“. Bei bereits in Deutschland geborenen Kindern aus Migrantenfamilien mit deutschem Pass sei die Quote der Ehrenamtlichen mit 43,2 Prozent deutlich höher. Insgesamt engagiert sich laut dem Bericht fast jeder zweite Deutsche ehrenamtlich.