Assistierter Suizid ist in Deutschland rechtlich in einer Grauzone. Nun konnte sich der Bundestag Anfang des letzten Monats auf keinen Entwurf zur Reform einigen. So bleibt es bei der seit 2020 verbrieften Situation, dass ärztliche Sterbehilfe nur durch Sterbehilfe-Vereine oder durch einen persönlichen Kontakt zu einem Arzt, einer Ärztin möglich ist, der/ die dazu bereit ist.
Wir haben den früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Nikolaus Schneider (75) und seine Frau, die pensionierte Lehrerin Anne Schneider (74), nach ihrer Meinung zur aktuellen Situation gefragt. Das Ehepaar diskutiert immer wieder öffentlich – auch aus persönlicher Betroffenheit – ihre kontroversen Ansichten über die Legitimität des assistierten Suizids.
Frau Schneider, Herr Schneider: Hat es Sie enttäuscht, dass keiner der Reformvorschläge durchkam?
Nikolaus Schneider: Für mich ist dieses Ergebnis besser als eine Beschlussfassung ohne eine ausreichende Beschäftigung mit den Entwürfen und ohne eine erneute tiefgreifende Debatte des gesamten Themenkomplexes. Angesichts der multiplen Krisen, mit denen sich Regierung und Parlament beschäftigen mussten, mag das für die letzten Monate nachvollziehbar sein. Ein neues Gesetz zur Sterbehilfe bleibt für mich aber ein Desiderat. Denn sterbewillige Menschen benötigen Klarheit über ihre Handlungsmöglichkeiten. Ebenso wie Ärztinnen und Ärzte Rechtssicherheit sowohl für ihre Ablehnung wie für ihre Bereitschaft, zum Sterben zu helfen. Und nicht zuletzt sollte der Hinweis des Bundesverfassungsgerichtes zur Prävention von Suiziden in einem neuen Sterbehilfegesetz konkretisiert werden.
„Ich wünsche mir eine gesetzliche Regelung, die Sterbewilligen legale Handlungsoptionen eröffnet.“ (Anne Schneider)
Anne Schneider: Mich hat schon sehr enttäuscht, dass in den vergangenen dreieinhalb Jahren so wenig Zeit und Energie für eine Reform der Sterbehilfe aufgewendet wurde. Das gilt für die vergangene Regierung ebenso wie für die aktuelle. In der jetzigen Situation ohne Gültigkeit des Paragraphen 217 – also mit dem Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben und mit der Freiheit, dabei ärztliche Assistenz in Anspruch zu nehmen – erscheint manchen Regierenden und Regierten die Mühe um ein neues Sterbehilfegesetz wohl nicht mehr notwendig. Ich wünsche mir aber – wie Nikolaus – eine gesetzliche Regelung, die Sterbewilligen und Assistierenden trotz der nicht vermeidbaren ethisch-rechtlichen Grauzonen legale Handlungsoptionen eröffnet. Durchaus auch mit Hilfe von transparent organisierten und nicht auf Geschäftemacherei abzielenden Sterbehilfe-Vereinen wie etwa in der Schweiz.
Als Sie, Frau Schneider, vor zehn Jahren schwer erkrankten, haben Sie öffentlich gesagt, Sie würden gegebenenfalls in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Sie, Herr Schneider, waren damals oberster Repräsentant der evangelischen Kirche und lehnten wie diese die aktive Sterbehilfe ab. Sie hätten Ihre Frau freilich dennoch begleitet. Haben Sie sich mittlerweile in Ihren Positionen angenähert?
Anne Schneider: Kontroverse Diskussionen über theologische Fragen bereichern Nikolaus und meine Beziehung seit Beginn unseres Theologiestudiums. Unterschiedliche Positionen – wie jetzt in der Frage nach einer theologisch verantwortbaren Sterbehilfe – sind für uns auch der Einsicht geschuldet: Absolute Wahrheiten über den Willen Gottes überschreiten jedes menschliche Maß – auch das von Kirchenleitungen. Diese Einsicht entbindet Christinnen und Christen allerdings nicht davon, in Verantwortung vor Gott und Mitmenschen um konkrete ethische Entscheidungen zu ringen und sie dann in politische Diskurse und in Gesetzgebungsverfahren mit einzubringen.
Nikolaus Schneider: Über sinnvolle Gesetzgebungen zur Sterbehilfe diskutieren Anne und ich konkret, seit 2001 in den Niederlanden ein liberales Sterbehilfe-Gesetz verabschiedet wurde. Dabei wurde uns neu klar: Wir unterscheiden uns im Blick auf den Verantwortungsraum, den Gott dem Menschen zugedacht hat. Für mich ist die theologische Norm wichtig, dass der Mensch sein Leben grundsätzlich nicht selbst beenden soll. Selbsttötung und auch die Beihilfe dazu sollen als „unmögliche Möglichkeit“ (Karl Barth) einer Extremsituation vorbehalten sein.
Anne widerspricht der theologischen Norm, dass der Todeszeitpunkt eines Menschen grundsätzlich in Gottes Machtbereich verbleiben soll. Das gegenseitige Verstehen unserer Positionen ist in den vergangenen Jahren genauer und stärker geworden, es bleiben aber Unterschiede bei grundsätzlichen Fragen der Herangehensweise und Bewertung der Gesamtthematik. Ich habe gelernt, dass im Ringen um ein Verbot von Sterbehilfe-Vereinen und von „geschäftsmäßiger“, also auf Wiederholung angelegter, ärztlicher Suizidassistenz unsere kirchlichen Positionen zu einseitig die Lebensschutzaufgabe des Staates betont hatten. Dadurch blieben die Freiheitsrechte des Einzelnen als Ausdruck der Würde jeder Person und die Aufgabe des Staates, Menschen bei der Realisierung ihrer Freiheitsrechte zu unterstützen, unterbestimmt. Um hier zu einer beide Aspekte angemessen berücksichtigenden Position zu kommen, mühe ich mich – auch und gerade in den theologisch-ethischen Diskursen mit Anne.
„Nikolaus sähe es als Akt der Liebe, wenn er mich unter Umständen bei einem Suizid begleitete.“ (Anne Schneider)
Anne Schneider: Mein Gottes- und mein Menschenbild und das von Nikolaus unterscheiden sich noch immer in theologischen Aspekten und in politischen Konsequenzen. Ich plädiere weiter für kirchliche Akzeptanz von legalen Möglichkeiten eines ärztlich assistierten Suizids. Denn: Menschen pfuschen Gott nicht grundsätzlich in sein Handwerk, wenn sie selbstverantwortlich ihr Sterben beschleunigen. Nikolaus sähe es als Akt der Liebe, wenn er mich unter Umständen bei einem Suizid begleitete. Diese Liebeserklärung ist mir wichtiger, als alles Recht-Haben-Wollen in unserem theologisch ethischen Diskurs.
Argumente für das Recht auf den eigenen Tod scheinen in unserer westlichen Welt weniger umstritten zu sein als die Argumente gegen eine aktive Sterbehilfe. Wir bitten um Ihre Meinung zu folgenden Einsprüchen gegen die Legalisierung des assistierten Suizids:
… auf alte, kranke, einsame Menschen könnte ein sozialpsychologischer Druck entstehen, „niemandem mehr zur Last zu fallen.“
Nikolaus Schneider: Das ist schon jetzt eine real bestehende Lebenshaltung älterer Menschen. Ein solcher sozialpsychologischer Druck könnte bei einer liberalen gesetzlichen Regelung zum ärztlich assistierten Suizid verstärkt werden. Eine solche Regelung müsste deshalb flankiert werden von Maßnahmen, die Menschen in der Pflege von Alten, Kranken und Einsamen entlasten.

Anne Schneider: Auf alte, kranke und einsame Menschen sozialpolitischen Druck auszuüben, damit sie Suizid begehen, bewerte ich durchaus als „Sünde“, also als Verstoß gegen den Willen Gottes. Aber ich glaube nicht, dass wir um Gottes Willen alle alten Menschen unter allen Umständen von der Sinnhaftigkeit ihres irdischen Lebens überzeugen müssen. Ich kann mir für mich durchaus vorstellen, dass mein Lebenswille erlischt, wenn ich alt, krank und einsam bin. Auch ohne Druck könnte in mir dann die bilanzierende Überzeugung reifen: Ich hatte ein reiches erfülltes Leben. Ich gebe mein irdisches Leben jetzt dankbar zurück in Gottes Hand.
… die politischen Verhältnisse könnten sich so ändern, dass sich die sogenannte „Vernichtung unwerten Lebens“, wie in der NS-Zeit in Deutschland, wiederholt, und dies dann legal ist.
Nikolaus und Anne Schneider: Auch wenn in Deutschland faschistische Haltungen lauter werden, und auch wenn ein rechtsradikales Lager stärker wird, das an nationalsozialistische Zeiten anknüpfen möchte: Zurzeit befürchten wir nicht, dass „Vernichtung unwerten Lebens“ zu einem staatlichen Programm in unserem Land werden könnte.
… den Sterbewunsch eines Menschen zu ermitteln und ihm dann nachzugeben, ist für Ärztinnen und Ärzte höchst anspruchsvoll. Ist diese Aufgabe für Helfer, Medizinerinnen, Sozialarbeiter zumutbar?
Nikolaus und Anne Schneider: Wir halten es für unverzichtbar, pathologisch bedingte Sterbewünsche zu erkennen und deren Umsetzung zu verhindern. Auch wenn das eine anspruchsvolle und sicher nicht immer eindeutig zu lösende Aufgabe ist. Sich ihr zu stellen, ist unvermeidlich, gerade wenn durch ein liberales Sterbehilfegesetz legale Möglichkeiten für Suizid-Assistenz eröffnet werden. Deshalb wird bei allen Gesetzentwürfen sehr genau zu bedenken sein, wie Untersuchungen oder Beratungen konkret ausgestattet, ausgestaltet und aussehen müssen, damit sie für Beratende und Beratung Suchende zumutbar sind.
„Prävention umfasst für mich die weitere Verbesserung der Hospiz- und Palliativarbeit in unserem Land“ (Nikolas Schneider)
Was würden Sie der Ethikkommission und den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern raten?
Nikolaus Schneider: Ich rate zu einer Atem- und Denkpause. Ein neuer Anlauf für ein reformiertes Sterbehilfegesetz sollte aber noch von dieser Regierung unternommen werden. Ich würde mir dann einen Gesetz-Entwurf wünschen, der sich wesentlich auch auf die Präventionsaufgaben konzentriert. Prävention umfasst für mich die weitere Verbesserung der Hospiz- und Palliativarbeit in unserem Land und den Aufbau einer Hilfe- und Beratungsstruktur für Menschen, die sich töten wollen. Schließlich muss sichergestellt sein, dass ärztlich assistierter Suizid keine medizinische Pflichtaufgabe wird. Er sollte aber auf der Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes ermöglicht werden, wenn Ärztinnen und Ärzte ihn ethisch verantworten können.