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Statistik oder Herz?

­­­­­Ist die erstmalige Zählung der Obdachlosen in Berlin am 29. Januar nur statistische Erhebung? Was hilft wirklich?

Von Helge Riesberg

Auch in unserer Notunterkunft informieren wir die Gäste über die Zählung. Sie reagieren positiv. Denn die meisten fühlen sich nicht gesehen. Bei der Zählung kommen Menschen auf sie zu und geben ihnen das Gefühl: Ich werde beachtet und wahrgenommen. Da interessieren sich Menschen für mich als Person, meine Situation auf der Straße, um helfen zu können. 

Ich weiß aus meiner Erfahrung, als ich drei Jahre auf der Straße lebte: Ich hätte mich riesig gefreut, wenn sich mal jemand um mich gekümmert, mich gesehen hätte. Die Leute schauen weg, wenn man in Mülleimern nach Essbarem sucht. Oft spürte ich verachtende Blicke.  

Ein Obdachloser ist oft unterwegs mit sich selbst, nutzt Hilfsangebote als Akuthilfe. Jeden Tag habe ich Hunger und Durst, brauche Essen und Trinken oder ­Alkohol, wenn ich suchtkrank bin. Damit sind meine alltäglichen ­Bedürfnisse eigentlich befriedigt. Irgendwann brauche ich vielleicht mal Schuhe und eine Hose und nutze eine ­Kleiderkammer. Aber ich bleibe obdachlos, bin ein Mensch, der ohne Hoffnung und ohne Sinn durch den Tag läuft. Diesen Menschen zu erreichen, ist schwer. Das geht nur über Vertrauen. Sodass der Mensch sich öffnet und ein Ziel, einen Sinn für sich findet. 

Ich hatte dieses Glück. Ein Pfarrer lud mich am Zoologischen Garten zu einem Essen und einem Gottesdienst ein. Da begegnete ich Jesus Christus. Er ist jetzt mein Lebenssinn. Und ich bin der Berliner Stadtmission sehr dankbar. Sie hat mich unterstützt. 20 Monate konnte ich dort im Betreuten Wohnen leben und eine Ausbildung machen. Heute leite ich eine Notunterkunft für 52 Männer. 

Den Menschen, denen ich in der Unterkunft jeden Abend von 21 Uhr bis 8 Uhr früh begegne, geht es immer schlecht. Sie brauchen Nahrung, Kleidung und eine Dusche. Manche haben offene Wunden an den Beinen. Das ist die Krankheit Nummer 1, weil sie mit nassen Schuhen herumlaufen. In der Akuthilfe kann ich viel tun. Das ist Erste Hilfe für den Moment. Auf Augenhöhe. Aber Hilfe für den Lebenssinn?

Nur weil Obdachlose gezählt werden und Menschen nach ihrer Situation fragen, sind sie noch lange nicht weg von der Straße. Aber will einer überhaupt weg von der Straße? Es bringt nichts, wenn man ihn in eine Wohnung setzt, denn diese muss ja bezahlt werden. Und wenn er oder sie ins betreute Wohnen geht, geht damit auch ein Stück Freiheit verloren.

Wichtig an dieser Zählung ist, dass wir bald wissen, wie vielen Menschen auf der Straße wir eigentlich helfen müssen. Sprechen wir von 3000 oder von 10 000 Obdachlosen? Beispielsweise wird die Zahl der obdachlosen Rollstuhlfahrer bisher unterschätzt. 

Wir haben viele obdachlose Menschen in Berlin mit offenen Beinen, die schon von Maden befallen sind. Sie gehen nicht zum Arzt, weil sie nicht krankenversichert sind oder glauben, das gehe schon wieder weg. Mit genaueren Zahlen kann man eine bessere und größere Straßenambulanz fordern. Viele Einrichtungen können keine Rollstuhlfahrer aufnehmen. Meine auch nicht. Wenn der Senat weiß, wie viele das betrifft, ob es 16 oder 600 Rollstuhlfahrer sind, könnte man das Angebot optimieren und finanzieren. 

Insofern ist die Zählung für die Akuthilfe super. Aber langfristig gesehen verlässt der Obdachlose die Akuthilfe wieder, ob das eine Suppenküche ist, eine Kleiderkammer oder eine Nothilfeunterkunft. Im Sommer ist er draußen. Gesundheitlich und psychisch wird es ihm nicht besser gehen. Er lebt irgendwo versteckt, sammelt Pfandflaschen, bettelt. Dieses ­Problem ist mit der Zählung und besseren Unterkünften nicht ­behoben. 

Ich würde mir wünschen, dass es ein Begegnungszentrum gibt für Menschen, die Hilfe wollen. Wo sie über die Akuthilfe hinaus Lebenshilfe bekommen. Ich beschreibe das gern mit dem Bild eines Wohnzimmers. In einem Haus mit Schlafzimmer, Kinderzimmer, ­Küche, Bad und WC gibt es auch ein Wohn- oder ein Esszimmer, in dem sich die Familie trifft, mit­einander spricht, spielt, wo Kinder ihre Hausaufgaben machen. Genau so eine Art Wohnzimmer brauchen wir in dieser Stadt: wo Menschen, die Hilfe haben wollen, hingehen können, Helfende da sind, die Zeit haben und wo Obdachlose wirklich mit Menschen zusammenkommen, die ihnen ­dabei helfen, festzustellen, was ­eigentlich schief läuft. 

Die Vernetzung von Hilfsangeboten und Initiativen gibt es ja zum Teil schon. Aber wenn durch die Zählung die Problematik sichtbarer wird, anhand der Zahlen, dann schafft man es vielleicht auch, ein solches Wohnzimmer einzurichten. Dann könnte man viel gezielter eingreifen. 

Obdachlosen fehlt Geborgenheit, Wertschätzung, Liebe und Frieden, da sind Löcher in ihrem Leben. Wenn man Obdachlosen das Gefühl von Nähe gibt oder ein „ich sehe dich“, das erfüllt das Herz eines Obdachlosen. Auf jeden Fall dranbleiben: Jesus liebt uns. 

Helge Riesberg leitet die Obdachlosen-Notunterkunft der Berliner Stadtmission in Berlin- Reinickendorf.