Artikel teilen:

„Starke Leistung“

Auf der Suche nach Freiheit und Zukunft verlassen Millionen von Menschen ihre Heimat. Während die Männer oft mit der Situation als Asylbewerber nicht gut klar kommen, sorgen die Frauen für Einkommen und sind in vielen Familien der Motor der Integration

© epd-bild / Stefan Arend

Weltweit gibt es über 230 Millionen Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit, Freiheit oder wirtschaftlicher Zukunft ihre Heimat verlassen haben und als Migranten in einem fremden Land versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Fast die Hälfte von ihnen sind Frauen. Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen wies schon 2006 auf eine „Feminisierung der Migration“ hin.

Schlüsselfunktion von Migrantinnen

„In Deutschland ist die Sicht auf Migrantinnen als Opfer von Zwangsprostitution, häuslicher Gewalt, Rückständigkeit und Fremdbestimmung häufig von Stereotypen geprägt“, bedauert Silke Tödter, Gleichstellungsbeauftragte des niedersächsischen Landkreises Peine. Ihr ist wichtig, dass auch die Stärken von Migrantinnen und ihre Schlüsselfunktion auf dem Weg zu Integration wahrgenommen werden.
„Mama, gut, dass du so stark warst“, sagen Adhurim und Kosovar, die beiden 16 und 13 Jahre alten Söhne von Dashurije Shala (Name gekürzt) oft, wenn sie sich die Geschichte ihrer Eltern von Flucht und Neuanfang erzählen lassen. Die Söhne sind stolz auf ihre Mutter. „Ich habe wirklich viel geschafft“, stimmt die 43-Jährige mit einem Selbstbewusstsein zu, das ihr erst in den Jahren in Deutschland zugewachsen ist. Als sie am 22. November 1998 nach wochenlanger Flucht vor dem Bürgerkrieg im Kosovo mit dem damals sechs Monate alten Adhurim in Koblenz ankam, hatte sie nichts als Schrecken im Gepäck; dazu 5000 Mark Schulden – Geld, das sie sich für die Flucht geliehen hatte.
Heute bewohnt die Familie ein bescheidenes eigenes Haus, das sie ohne Dashurijes Beharrlichkeit und ohne ihre Arbeit als Küchenhilfe kaum hätte kaufen können. Es war Dashurije, die ihren Mann zum Kauf überredete und alle Verhandlungen führte. „Dort, wo ich herkomme, machen Frauen so etwas nicht. Dort gehen sie auch nicht arbeiten. Aber ich wollte ein anderes Leben“, sagt sie.
Die Waldbröler Sozialarbeiterin Christina Grümbel hat in 25 Jahren Arbeit mit und für Migranten die oft übersehene, starke Leistung der Frauen schätzen gelernt. „Auch wenn viele Migrantinnen nicht unseren kulturellen Vorstellungen von Rollenverteilung entsprechen, verdienen sie unseren Respekt. Alles hinter sich zu lassen und trotz der Verluste und Traumata für die Familie eine Art Normalität zu schaffen – das ist eine starke Leistung.“
Als Meryem Sabuncuoglu mit ihrem sechs Jahre älteren Ehemann im Januar 1993 aus der Türkei in Köln ankommt, ist sie 21 Jahre alt und Mutter von zwei kleinen Töchtern. Ihre Familie gehört zur christlichen Minderheit in der Türkei. Sie wollen in Deutschland den alltäglichen Schikanen und der Behördenwillkür entkommen, denen sie sich massiv ausgesetzt fühlten. Dennoch ist ihr erster Eindruck, „hier, in Kälte und Anonymität kann ich nicht leben“. Meryem friert – auch seelisch.

„Gut, dass es freundliche Menschen gibt“

Zur Familie gehören auch Michael und Sarah, die beiden schulpflichtigen Geschwister ihres Mannes. Vier Jahre lang leben sie zu sechst in zwei winzigen Zimmern der Asyl-Sammelunterkunft in Waldbröl. Hier gibt es den Freundeskreis Asyl, eine Gruppe Christen, die ins Asylheim kommt, Hilfe und Kontakt anbietet. „Gut, dass wir diese Menschen zuerst getroffen haben und nicht solche, die einen spüren lassen: ‚Du gehörst hier nicht hin‘“, erzählt Meryem.
Anfangs ist ihr Alltag ausgefüllt mit typischer „Frauenarbeit“: die Töchter versorgen, kochen, waschen, einkaufen, putzen. Mit Michael und Sarah lernt sie Deutsch, damit sie in der Schule einen Abschluss schaffen. In ihren Töchtern weckt Meryem, die selbst nur vier Jahre zur Schule ging, ungestümen Ehrgeiz: Sie wollen zu den Besten gehören. Sie ist stolz, als die beiden älteren schon in der Grundschule verkünden: Sozialarbeiterin und Juristin wollen sie werden, „damit wir später mal Leuten im Asyl helfen können“. Und auch die Jüngste, die 1999 geboren wird und der die Eltern bewusst den deutschen Namen „Petra“ geben, gehört stets zu den Klassenbesten.
„Wenn wir Frauen stark sind, während unsere Männer jahrelang zu Hause sitzen müssen, werden sie seelisch immer kleiner“, beschreibt Meryem ein Problem, das sie auch aus anderen Flüchtlingsfamilien kennt. Ihr hilft, dass sie in der örtlichen Kirchengemeinde Kontakt knüpft, bald selbst im Freundeskreis Asyl mitarbeitet und eine mütterliche Freundin fand, die der inzwischen siebenköpfigen Familie eine Wohnung anbietet. Meryems Mann, der als Asylbewerber nicht arbeiten darf, sehnt sich zurück in die alte Heimat. Zurück in die Männergesellschaft, in der er im Winter jagen ging, zurück zu Olivenhain und Tabakfeld. Zurück in die Rolle als Ernährer und Familienoberhaupt, „Wer bin ich hier schon?“, fragt er oft.
„Frauen machen ihren Job, halten die Familie emotional über Wasser, während Männer in den Zeiten der Ungewissheit oft in eine Art Starre fallen“, beobachtet auch Christine Althöfer, Mitarbeiterin einer kirchlichen Beratungsstelle für Flüchtlinge im Bergischen Land. „Selbst wenn die Männer auf den ersten Blick oft dominieren, sind doch meist die Frauen der Motor für Überleben und Integration“, sagt sie.
„Entweder du stehst als Frau auf deinen Beinen, oder die Familie geht kaputt“, urteilt Meryem. Als ihnen 1998 endlich das Bleiberecht zugesprochen wird, ist sie es, die zuerst Arbeit findet: Hilfsarbeiterin im Drei-Schicht-System, dazu Haushalt und Familie fordern sie bis an den Rand ihrer Kräfte. Die Großfamilie dagegen tut sich schwer damit, dass Meryem Geld verdient und mit flotter Kurzhaarfrisur und modischer Kleidung so gar nicht ins Bild einer „türkischen Mama“ passt.

Essen wie in der alten Heimat

Heute ist Meryem Vorarbeiterin – immer noch im Drei-Schicht-System – und hat in ihrer Firma auch ihrem Mann eine Stelle besorgt. Sie haben ein altes Haus mit Garten gekauft, in dem ihr Mann wie in der Türkei Obst und Gemüse zieht. Die älteste Tochter arbeitet als Sozialarbeiterin, die mittlere studiert Jura und die jüngste macht gerade Abitur.
Die Töchter haben deutsche Freunde, und können sich nicht vorstellen, jemals in der Heimat ihrer Eltern zu leben. Und auch Meryem will nicht zurück – auch wenn sie sich an die kalten Winter immer noch nicht gewöhnt hat und sie immer noch am liebsten isst wie „in der alten Heimat“: selbst gemachten Käse, viel Gemüse, Oliven und Peperoni. „Das schmeckt nach zu Hause“, findet sie – und freut sich dennoch, dass ihre Töchter auch Rotkohl, Braten und Klöße auf den Tisch bringen können.