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Soziologe besorgt über Entzivilisierung von Konfliktaustragung

Der Soziologe Steffen Mau von der Berliner Humboldt-Universität äußert sich besorgt über eine Radikalisierung von Protestformen. Es gebe einen Erregungszustand in der Gesellschaft und Veränderungszumutungen, sagte Mau im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Darauf reagierten Menschen häufig allergisch und übertrieben, betonte er mit Blick etwa auf eine gegen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gerichtete Blockade vom Jahresbeginn.

epd: Viele Demonstrationen laufen nach wie vor friedlich ab. Worauf ist die Eskalation bei einigen Protesten zurückzuführen?

Steffen Mau: Manchen erscheint es als legitime Widerstandsgeste, auf so eine Art und Weise auf Politiker zuzugehen oder öffentliche Einrichtungen in Mitleidenschaft zu ziehen. Das ist eine generelle Entwicklung von Entzivilisierung der Konfliktaustragung, die ich mit Sorge beobachte.

epd: Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Im Fall des Wirtschaftsministers lehnten die Blockierer ein Gesprächsangebot ab.

Mau: Wenn Sie eine sehr stabile und geordnete Gesellschaft haben und ein glaubhaftes Wohlstandsversprechen, sind Konflikte in gewisser Weise abgedimmt. Wenn Sie eine sehr unsichere wirtschaftliche Lage haben, intensivieren sich Verteilungskämpfe und dann versuchen unterschiedliche Gruppen, ihre Partikularinteressen durchzusetzen.

epd: Angesichts von Debatten über Klima- und Migrationspolitik ist viel von einer Spaltung der Gesellschaft die Rede. Trifft das zu?

Mau: Ich halte das Bild der gespaltenen Gesellschaft für überzogen. Demnach müsste es zwei oder mehrere Lager geben. Die Gesellschaft hat nach wie vor eine Zentrierung vor allem um die Mitte herum. Gleichzeitig gibt es eine Radikalisierung des Randes, vor allem des rechten Randes, die sich bis in die Mitte hineinfrisst. Angemessener wäre von einer Radikalisierung und Politisierung zu sprechen als einer Polarisierung.

epd: Was sind die Ursachen der Radikalisierung und wie kann ihr entgegengewirkt werden?

Mau: Die Menschen haben weniger starke Bindungen an Parteien oder andere große Organisationen wie Gewerkschaften oder Kirchen. Sie werden stärker von Stimmungen und einer Politik der Emotionen angesprochen. Damit bewegt sich die Wählerschaft stärker entlang diskursiver Triggerpunkte oder Aufregerthemen. Das ist für die Parteien sehr gefährlich, weil sie ständig von neuen Themen überrascht werden und andererseits einen Anreiz haben, ihre Anhänger über emotionale Ansprache zu mobilisieren. Versachlichung ist natürlich immer ein Gegenrezept, vielleicht auch ab und zu ein Thema durchlaufen zu lassen und nicht auf jedes anzuspringen. Aber es gibt offenbar eine Verlockung, in solche Kulturkampfthemen hineinzugehen und aus denen dann politisches Kapital zu schlagen.

epd: Was verstehen Sie unter dem Begriff Triggerpunkt?

Mau: Triggerpunkte sind Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, an denen bestimmte Themen angesprochen werden, die eine Verbindung mit Gerechtigkeitsempfindungen und Normalitätsvorstellungen haben. Es gibt Themen, über die wir sachlich sprechen können. Es gibt andere Themen, bei denen den Leuten die Hutschnur hochgeht. Meist geht es dabei um Verhaltenszumutungen, beispielsweise wenn etwa die eigene Sprache verändert werden soll. Bei Migrationsfragen entsteht ein Gefühl des Kontrollverlusts. Darüber hinaus gibt es Themen, bei denen Menschen das Gefühl haben, dass es ungerecht zugeht. Die Bauernproteste speisen sich aus dem Gefühl einer zu starken Belastung im Zuge von Sparmaßnahmen.

epd: Sind Triggerpunkte ein neues Phänomen oder gab es das auch in der Zeit vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten von 1933?

Mau: Das gab es auch in der Vergangenheit, aber wenn sie etwa eine starke Parteibindung haben, sind Menschen nicht so leicht über Trigger anzusprechen. Wenn Sie sich an die Flutkatastrophe im Ahrtal und an das Lachen des damaligen Kanzlerkandidaten Armin Laschet erinnern, hatte das enorme Effekte auf die Bereitschaft, die CDU zu wählen. Wenn Sie loyale Parteianhänger haben, quasi Stammkunden, dann lassen Sie sich durch so etwas nicht irritieren. Wenn die Wählerschaft insgesamt beweglicher geworden ist, dann reagiert sie relativ stark auf solche Form der Emotionalisierung. Auch in den 1930er Jahren gab es eine sehr wilde und bewegliche politische Lage, mit einer Parteienlandschaft, die sich erst auskonturiert hat. Wir haben das jetzt wieder mit der AfD, die einen enormen Zulauf erfährt und hohe Umfragewerte verbuchen kann. Da ist möglicherweise etwas ins Rutschen gekommen. Die etablierte Politik gerät in die Defensive.

epd: Welchen Anteil hat eine verbreitete Erschöpfung an dieser Entwicklung?

Mau: In Ostdeutschland gibt es so etwas wie eine Transformationsmüdigkeit. Aber es gibt auch insgesamt in der Bevölkerung um die 40 Prozent, die sagen, wir kommen mit dem Wandel nicht mehr mit. Und es gibt Beschleunigungsprozesse des sozialen Wandels. Vor 200 Jahren waren die Sozialtechniken, die man genutzt hat, oder das, was man lernen musste, relativ konstant. Heute verändert sich das innerhalb von zehn Jahren dramatisch. Dabei spielen Globalisierung, Digitalisierung, Veränderungen der Arbeitswelt und Fragen von Migration eine Rolle. Diese Faktoren geben den Menschen das Gefühl, dass der Boden, auf dem sie stehen, brüchiger geworden ist. Dann gibt es Menschen, die sich von Populisten ansprechen lassen, weil deren Slogan lautet: Die Welt soll so bleiben, wie sie ist, und du sollst so bleiben, wie du bist. Demgegenüber sagen die Progressiven: Du musst dich an die sich verändernde Welt anpassen. Diese Botschaft legt mehr Veränderungszumutung auf das Individuum und wird daher auch oft abgelehnt.

epd: Wie steht es um die Mitte der Gesellschaft?

Mau: Die breite Mitte ist in gewisser Weise akustisch abgedimmt. Wir hören relativ stark die lauten Ränder. Das ist vergleichbar einer Situation mit Freunden, die an einem Tisch sitzen und von denen zwei anfangen sich zu streiten. Dann wird der Rest häufig immer stiller. Wir beobachten, dass in der Mitte die politischen Leidenschaften nicht mehr so stark sind. Aber an den Rändern findet sehr viel Emotionalisierung statt. Wenn die Mitte sich politisch engagiert, möchte sie das häufig in gemeinschaftlicher Form und nicht in Form einer aggressiven Auseinandersetzung. Viele Menschen ziehen sich aus dem Politischen zurück. So entsteht der Eindruck einer gespaltenen Gesellschaft, obwohl das eher eine Frage der Lautstärke der einzelnen Gruppen ist.

epd: Wie kann diesen gemäßigten Gruppen mehr Sichtbarkeit verschafft werden?

Mau: Natürlich ist es erst einmal eine Aufforderung an diese Gruppen selbst, sich stärker in den politischen Prozess einzubringen. Für die Politik heißt das, man muss möglicherweise niedrigschwellige Angebote auch jenseits von Partei- oder Vereinsmitgliedschaft machen. Wir müssen auch über neue Formate der politischen Beteiligung nachdenken, wo Konflikte, die legitim und notwendig sind, in vernünftige Bahnen der Aushandlung geführt werden.

epd: Sehen Sie in der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage Parallelen zu der Zeit vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten? Inwiefern unterscheidet sie sich von 1933?

Mau: Der wichtigste Unterschied ist, dass wir heute wissen, was passiert, wenn eine Demokratie wegrutscht oder sich in eine Diktatur verwandelt. Ich glaube, dass wir eine deutlich gefestigtere Demokratie sind nach 75 Jahren Bundesrepublik und Grundgesetz. Wir sind in einer komplizierten Phase der Herausforderungen und Anfechtungen der Demokratie, aber wir haben eine breite gesellschaftliche Mitte und ein großes Spektrum, das eine hohe Bindung an die liberalen Prinzipien und unser Grundgesetz hat, sodass ich die Gefährdungen nicht so weitgehend sehe, wie sie sich in der Weimarer Republik entwickelt haben.