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Sorge vor zunehmenden antijüdischen und antiisraelischen Tendenzen

Jüdische Vertreter und Bayerns Antisemitismusbeauftragte warnen vor einer Entsolidarisierung und vor zunehmendem Judenhass. Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden, warnte am Donnerstag vor neuer Angst und Verunsicherung bei Jüdinnen und Juden in Deutschland: „Ich erkenne in den vergangenen Wochen zuweilen dieses Land nicht wieder.“ Die ehemalige Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch sagte, sie könne sich „nicht erinnern, dass ich je einen solchen Angst-Komplex unter Jüdinnen und Juden in Deutschland erleben musste wie heute.“

Schuster zog bei der offiziellen Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 eine Linie von den damaligen Gewaltakten der Nationalsozialisten zu heutigen Angriffen, die seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober deutlich zugenommen haben. Wer verstehen wolle, was Jüdinnen und Juden in diesen Tagen fühlen, müsse sich die historischen Pogromerfahrungen im jüdischen Denken bewusstmachen, sagte der in Würzburg lebende Schuster: „Die Jagd auf Juden, dort wo sie zu Hause sind, brennt sich tief ein in das kollektive Bewusstsein von Jüdinnen und Juden.“

Zugleich machte Schuster deutlich, was heute „der wohl größte Unterschied zu 1938“ sei. „Wurde die Gewalt damals von den Nationalsozialisten geschürt, schützt heute der Staat die jüdische Gemeinschaft“, sagte er bei der Gedenkveranstaltung, die unter hohen Sicherheitsvorkehrungen stattfand. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sicherte der jüdischen Gemeinschaft in seiner Ansprache den Schutz des Staates zu. Das Versprechen „Nie wieder“, auf dem das demokratische Deutschland gründe, „müssen wir gerade jetzt einlösen“, sagte er. Das bedeute zuallererst den physischen Schutz von jüdischen Einrichtungen und Gemeinden.

Bereits am Mittwochabend hatte Schuster bei einer Gedenkfeier in Würzburg seine Wut über antiisraelische und Pro-Hamas-Demos auf deutschen Straßen zum Ausdruck gebracht: „Wer Terror bejubelt, hat aus der Geschichte nichts gelernt und hat in unserer Gesellschaft nichts verloren.“ Es erfülle ihn „mit großer Wut“, dass es in Deutschland Menschen gebe, „die die brutale Ermordung von 1.300 Jüdinnen und Juden“ feierten. Das Versprechen des „Nie wieder“ wandle sich zu einem „Schon wieder“. Er zeigte sich schockiert, wie oft man ein „lakonisches ‘Ja, aber’ hört“, um die Terrorattacke der Hamas mit 1.300 Toten zu relativieren.

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Knobloch, sagte dem Berliner „Tagesspiegel“ (Donnerstag), sie sehe eine gewachsene Bedrohung von Juden in Deutschland: „Die Menschen haben so viel Angst wie noch nie, manche überlegen sogar, das Land zu verlassen.“ Lange hätten sich Juden in Deutschland sicher gefühlt, nun aber spürten sie: „Sicherheit wie früher gibt es hier nicht mehr.“ Der „Rhein-Neckar-Zeitung“ (Donnerstag) sagte Knobloch, sie sorge sich um ein Nachlassen der deutschen Solidarität mit Israel: „Wenn die Bevölkerung sich irgendwann abwendet, dann wird es gefährlich.“

Der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle ist wegen des „dröhnenden Schweigens“ der deutschen Mehrheitsgesellschaft nach antiisraelischen Kundgebungen und antisemitischen Übergriffen äußerst besorgt. Kurz vor der Landtagswahl habe es in München eine zweifelsfrei wichtige Demo gegen einen Rechtsruck in der Politik mit rund 35.000 Teilnehmern gegeben: „Ich frage mich, wo die jetzt sind?“ Beim Thema Israel gebe es ein gesellschaftliches Schweigen, das „nicht hinnehmbar“ sei. Spaenle kritisierte ein „völlig verzerrtes“ und stark negatives Israel-Bild in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft.

Bei den Novemberpogromen vor 85 Jahren gingen die Nationalsozialisten mit offener Gewalt gegen die jüdische Minderheit vor. Höhepunkt war die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Es brannten Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet und jüdische Bürger misshandelt und getötet. Drei Jahre vor Beginn der systematischen Massendeportationen und nach zahlreichen rechtlichen Diskriminierungen erhielt die Verfolgung der Juden mit den Ausschreitungen einen neuen Charakter. (00/3677/09.11.2023)