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So wünsche ich mir die Kirche

Es gibt viele Vorstellungen von der Kirche. Eine kirchenleitende Theologin erzählt von ihrer

Robert Kneschke - Fotolia

Das Pfingstfest gilt als der Geburtstag der Kirche. Was gibt es da zu feiern? Wo ist Kirche stark und schön – und wo muss sie sich an die eigene Nase fassen? Bernd Becker und Gerd-Matthias Hoeffchen sprachen mit Präses Annette Kurschus, der leitenden Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen und stellvertretenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Was ist Kirche?
Besonders nah ist mir das biblische Bild des wandernden Gottesvolkes. Eine Gemeinschaft, die – von Gott gerufen – auf ein von Gott gestecktes Ziel hin unterwegs ist. In der sich die Einzelnen gegenseitig in ihrem Glauben und in ihrer Hoffnung bestärken. Aber auch korrigieren. Christlicher Glaube braucht die Gemeinschaft. Wer mit seinen Gewissheiten, mit seinen Fragen und Zweifeln für sich allein bleibt, gerät leicht auf Abwege. Am Anfang der Geschichte Gottes mit uns stand die Erwählung eines ganzen Volkes. Gott sei Dank.

Es gibt den Satz: Kirche entsteht da, wo Menschen am Küchentisch zusammensitzen.
Für viele mag das ein Kern-Erleben von Kirche sein: Menschen tun sich zusammen und  kommen ins Gespräch darüber, was ihr Leben trägt. Nach dem Gottesdienst noch beieinander bleiben, gemeinsam essen, ein Programm für die Familie – das spricht viele Menschen an.

Es gibt auch Menschen, die die Anonymität suchen.
Ja, die gibt es. Sie wollen – etwa im Gottesdienst – gerne dabei sein und mitfeiern, aber nicht persönlich angesprochen werden. Das würden sie eher als vereinnahmend und übergriffig empfinden. In der Gemeinschaft der Kirche sind die einen wie die anderen willkommen. Es gibt verschiedene Facetten von Gemeinschaft; unterschiedliche Arten und Formen, Kirche zu leben.

Welche denn noch?
Viele! Ein Beispiel sind unsere evangelischen Institute und Akademien. Da treffen sich Menschen, die Freude haben am gemeinsamen Nachdenken und Diskutieren. Sie fragen nach konkreten Folgen des Glaubens für unsere Verantwortung in der Welt.

Ist Kirchenmusik eine Form von Kirche?
Sehr viele Menschen gewinnen einen Zugang zur Kirche über das gemeinsame Singen und Musizieren. Zu unseren Kantoreien und Chören gehören begeisterte Sängerinnen und Sänger, die nicht von sich sagen würden: Ich bin überzeugter Christ, überzeugte Christin. Und dennoch sind sie durch ihr Singen in lebendiger Weise an der Verkündigung des Evangeliums beteiligt.

Man muss also nicht zu jeder Zeit das Glaubensbekenntnis aus tiefster Überzeugung aufsagen können, um dazuzugehören?
In unserer Kirche ist der Glaube keine Eintrittskarte für die Zugehörigkeit – aus gutem Grund.
Wir halten die Türen bewusst offen für Zweifelnde, Abwartende, Unentschlossene, Kritische, Gleichgültige –  ja sogar für Menschen voller Ablehnung. Sie alle gehören, wenn sie getauft sind, dazu. Ich meine, dies ist dem Evangelium gemäß. In der Taufe hat Christus einen Bund mit dem getauften Menschen geschlossen, ein grundsätzliches Ja zu ihm gesagt und ihn in seine Nachfolge gerufen. Christus kündigt diesen Bund seinerseits nicht auf. Sein Ruf bleibt bestehen, sein Ja bleibt gültig, seine Hand bleibt ausgestreckt. Ein Leben lang.

Manche sagen, die Kirche müsse wieder stärker vom Glauben reden …
Ich nehme diese kritische Ermutigung sehr ernst. Wir sind mit der direkten Rede vom Glauben womöglich zu vorsichtig. Stattdessen haben wir uns angewöhnt, umso beredter von „christlichen Werten“ zu sprechen. Allerdings dürfen wir nicht vergessen: Der Begriff stammt aus dem Bereich der Ökonomie. Diese Herkunft kann er nie ganz abstreifen. Der Wert einer Sache ist subjektiv und immer von Interessen geleitet. Der Wert bestimmt den Preis, der am Markt zu erzielen ist. Wir Christen dagegen gründen unsere Würde  darauf, dass Gott uns ansieht und anspricht. Gratis – aus Gnade. Umsonst. Nicht Werte leiten unser christliches Handeln, sondern die Liebe Gottes, die aus der Wahrheit kommt. Wahrheit und Liebe aber sind „wertlos“, man kann sie nicht einordnen in eine „christliche Hierarchie“ von Werten.

Wie kann man wieder mehr von Gott reden?
Meine Erfahrung ist: Von Gott reden lässt sich am überzeugendsten, indem wir ehrlich unsere eigenen Geschichten und Erfahrungen mit Gott erzählen. Es ist durchaus nicht so, dass niemand etwas von Gott hören will. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ich nehme bei uns – durchaus auch bei mir selbst – eine seltsame Scheu wahr, von Gott zu sprechen. Und immer, wenn ich es dennoch  tue, bemerke ich: Es weckt Interesse, lässt aufhorchen, macht neugierig, trifft auf erwartungsvolle Offenheit.

Früher war der Spruch oft: Man will ja keinen mit der Bibel erschlagen …
… und dann haben wir sie vorsichtshalber ganz aus dem Spiel gelassen. Ebenso wie etwa das Tischgebet. Über der Sorge, es könnte zu einem gedankenlos heruntergeleierten Pflichtritual verkommen, wurden viele Eltern vorsichtig damit – und nun lassen es ihre Kinder ganz. Wen wundert´s? Ich erinnere mich beschämt an manches eigene Zögern bei Hausbesuchen in der Gemeinde. Einmal war ich schon im Gehen, da wurde ich enttäuscht gefragt: „Ja, beten Sie denn gar keinen Psalm mit uns?“ Ich ahne: Unsere Gefahr besteht weniger darin, andere mit der Bibel zu erschlagen. Eher enthalten wir ihnen aus falscher „Rücksichtnahme“ die kostbaren Worte vor, aus denen wir selber  leben.

Woher kommt dieses mangelnde Selbstbewusstsein?
Ich frage mich das selbst oft. Womöglich hat es mit Scham zu tun. Mit der Scham zuzugeben, dass ich mich und mein ganzes Leben festmache an etwas, was ich nicht mit Argumenten herleiten und beweisen kann. Vielleicht spielt unbewusst auch eine Art von Selbstschutz mit: Was für mich der Grund des Lebens und der Hoffnung ist, lässt sich mit den gängigen Maßstäben der Vernunft leicht angreifen und lächerlich machen. Was uns Christen eine Gotteskraft ist, erscheint anderen als reine Torheit. Damit hatte schon der Apostel Paulus zu kämpfen.

Sie kommen viel rum in den Gemeinden und Einrichtungen der Kirche. Wie erleben Sie da Kirche?
Das große Privileg meines derzeitigen Amtes ist: Ich erlebe Kirche vorwiegend mit ihren starken und lebendigen und attraktiven Seiten. Ich begegne Menschen, die auf beeindruckende Weise Verantwortung wahrnehmen. Sie gestalten das kirchliche Leben auch unter veränderten Bedingungen phantasievoll und dem kirchlichen Auftrag gemäß. Ich erlebe schöne Gottesdienste, freue mich an herrlichen Kirchenräumen und wunderbarer Kirchenmusik. Ich habe meistens mit Menschen zu tun, die mit Leidenschaft und großem Einsatz bei der Sache sind – in Wort und Tat. Ich mache die Erfahrung, dass wir als Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner mit unserer einzigartigen Botschaft gefragt sind, wenn es um die großen Herausforderungen der Gesellschaft geht. Kirche ist richtig stark mit ihrer Diakonie und dem verlässlichen Beziehungsnetzwerk der Kirchengemeinden. All dies ist eine Wirklichkeit unserer vorfindlichen Kirche.

… die manch einer, der an seinem Ort leidet, vielleicht nicht mehr so sieht …
Mir ist bewusst, dass es auch andere Erfahrungen mit Kirche gibt. Kirche ist durchaus nicht nur stark und glänzend. Viele, die sich aktiv in der Kirche einsetzen, erleben besonders intensiv das Mühsame, scheinbar Vergebliche ihres Tuns. Viele bekommen existenziell zu spüren und leiden daran, dass unsere finanziellen Möglichkeiten drastisch abnehmen und die Personaldecke dadurch empfindlich dünner wird. Es tut weh zu erleben, wenn Liebgewordenes und Vertrautes deshalb nicht mehr in bewährter Weise fortgeführt werden kann. Gerade weil auch diese schmerzliche Wirklichkeit zur Kirche gehört, ist es wichtig, die stärkenden Erfahrungen nicht zu vergessen oder kleinzureden.

So vielfältig und unterschiedlich die Kirche auch sonst oft ist –  in der Flüchtlingsfrage zeigt sie sich erstaunlich geschlossen.
Unsere Geschlossenheit in der Flüchtlingsfrage ist ein gutes Beispiel dafür, dass kirchliches Handeln an einen vorgegebenen Auftrag gebunden ist. Wir erfinden unsere Aufgaben nicht nach eigenem Gutdünken; sie dienen alle der Erfüllung des Auftrags, „die Botschaft von der freien Gnade auszurichten an alles Volk“. Im Blick auf Fremde und Asylsuchende ist die biblische Weisung  bemerkenswert klar. Wenn wir sie ernst nehmen, können wir als Christen keinem, der Zuflucht bei uns sucht, die Tür vor der Nase zuschlagen. Unser Platz ist um Gottes willen an der Seite der Menschen, die bedroht sind, verfolgt werden und Not leiden.

Den Kirchen wird Blauäugigkeit vorgeworfen.
Dieses Schicksal teilen wir mit Jesus von Nazareth, der als Konsequenz seiner Eindeutigkeit im Eintreten für die Schwachen und Ohnmächtigen sogar sein Leben lassen musste. In seiner Nachfolge werden wir immer wieder auch belächelt werden, wenn wir kompromisslos Ernst machen mit dem Ansehen, das ausnahmslos jeder Mensch bei Gott genießt. Wichtig ist: Wenn wir uns einmischen in politische Debatten, sollte dies nie wohlfeil oder besserwisserisch daherkommen. Wir sind nicht die besseren Politikerinnen und haben nicht die klügeren Rezepte für eine verantwortliche Gestaltung der Zukunft. Wir leben von einer Verheißung her und auf ein Ziel hin, die wir uns nicht selbst gegeben haben und die nicht zuerst und nicht zuletzt von uns abhängen. Das sollte man uns abspüren. Nicht mehr. Und nicht weniger.

Wenn Sie sich ein Wunschbild malen könnten – wie würde die Kirche darauf aussehen?
Eine weltumspannende Gemeinschaft von Menschen, die gemeinsam staunen, voneinander lernen und miteinander versuchen, verantwortlich in der Nachfolge Jesu Christi zu leben. Eine weitherzige und warmherzige Gemeinschaft, aus der ich auch dann nicht hinausfalle, wenn ich gerade großen inneren Abstand zu ihr habe. Räume gehören dazu, die anders sind als die Räume, in denen ich täglich lebe. Orte, die über sich hinausweisen auf den Anderen, manchmal Fremden – auf Gott. Klänge gehören dazu – schöne und irritierende. Männer und Frauen und Kinder, deren Stärke darin liegt, dass sie sich auf glückliche Weise abhängig wissen: Weil sie sich das Wichtigste im Leben nicht selber geben und erklären müssen; weil sie sich die entscheidenden Worte nicht selbst zu sagen brauchen.
Kirche wird in meinem Wunschbild immer eine Gemeinschaft von Menschen sein, die Gott ehren und sich deshalb unablässig für das Wohl der Schwachen, den Frieden auf Erden und den Schutz der uns anvertrauten Schöpfung einsetzen. Mein kleiner (oder großer?) Traum ist: ein Gottesdienst, der für alle „passt“. Mit einer Sprache, die alle anspricht. Mit Musik, die allen zu Herzen geht. Mit einer Kraft, die alle beflügelt. Mit einer Botschaft, die allen ins Herz trifft.

Ein unerfüllbarer Traum?
Jedenfalls ein pfingstlicher.