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„So wollen wir leben“

Der Arbeitsbereich Demokratische Kultur der Evangelischen Akademie meldet sich zu drängenden ­Fragen der Gesellschaft wie Demokratiefeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie und der Zukunft der ­Kirche zu Wort. Warum gerade jetzt? Darauf antwortet Mitautor Heinz-Joachim Lohmann im Interview mit Sibylle Sterzik

Zur „Orientierung in einer auf Sturm gestellten Großwetterlage“ geht der Arbeitsbereich Demokratische Kultur an der Evangelischen Akademie mit dem Manifest „Glaube, Liebe, Hoffnung. Orientierungsversuch in Zeiten des Streits“ an die Öffentlichkeit (Seite 7). Warum gerade jetzt?

In den letzten Monaten traten alle gesellschaftlichen und politischen Fragen hinter der einen zurück, wie eine Katastrophe durch Ausbreitung von Covid-19 verhindert werden kann. Jetzt wenden wir uns langsam wieder normalen ­Abläufen zu. Die unbewältigten ­Themen bleiben weiterhin offen. Uns kommt es nun kurz vor Ende der Sommerpause darauf an zu sagen: Hierüber müssen wir weiter reden. Die Qualität unseres Zusammen­lebens hängt von den Antworten ab. Und als Christ*innen ist es für uns wichtig, dass wir die Begründungen in der Auseinandersetzung mit der ­Heiligen Schrift finden. 

Sie haben eine besondere Form gewählt, sechs Glaubenssätze – „Wir glauben …“ und daraus folgende Abgrenzung von Haltungen „Deshalb lehnen wir ab …“ Das ­erinnert an die Barmer Theolo­gische Erklärung aus der Zeit des Nationalsozialismus 1934. Ist das ­gewollt?

In Barmen wehrte sich die Evangelische Kirche bekenntnisübergreifend gegen die Ansprüche eines ­totalitären Staates an die Kirche und trat seinen Lakaien im eigenen ­Betrieb entgegen. Das ist weder im ­Äußeren noch im Inneren mit unserer Situation vergleichbar. 

Dass die Form an Barmen erinnert, liegt ein bisschen daran, dass es bei Erklärungen in den Kirchen der Reformation üblich ist, Zeitansagen aus der Schrift zu begründen. Im ­Gegensatz zu Barmen sagen wir auch: Diese Erkenntnisse und Lernfortschritte haben wir in den letzten Jahrzehnten gemacht und hinter die dürfen wir nicht zurückfallen. 

Unsere Schwestern und Brüder von der United Church of Christ in den USA fanden 2018 ­gemeinsam mit Menschen anderer Denominationen, dass die Zeit gekommen ist, als Christ*innen ein Wort zu drängenden Fragen in der amerikanischen Gesellschaft zu sagen. Sie taten das unter dem inspirierenden und leider unübersetzbaren Titel „Reclaiming Jesus“ (nicht unser Jesus). Und sie sprachen nicht als ­Synode, sondern – auch anders als Barmen – als in Verantwortung ­stehende Gläubige, die die Ereignisse zum Reden ­drängen.  

Für uns liegen die Akzente anders. Es geht nicht nur um Widerspruch, sondern auch um positives Bekenntnis: Diese Entwicklungen finden wir wichtig. So wollen wir leben. Und das finden wir gerade infrage gestellt und bedroht. Darüber hinaus ist für uns die enge Gemeinschaft mit den jüdischen Schwestern und Brüdern zentral. Die spielte in der amerikanischen Erklärung keine Rolle. 

Finden Sie, dass Kirche sich in drängenden Gegenwartsfragen bisher zu wenig klar positioniert hat und wenn ja, welche sind Ihnen besonders wichtig?

Wer ist die Kirche? Der Ratsvorsitzende, Bischöf*innen und Synoden sagen Richtiges und Wichtiges zu vielen Fragen. Viele Gemeinden engagieren sich in herausragender Weise in der Willkommenskultur. Alle kirchlichen Ebenen lassen sich berühren von der Katastrophe an den EU-Außengrenzen. 

Wir orientieren uns mehr an den Bildern vom Sauerteig und vom Salz: Geringe Mengen sind in der Lage, das Ganze zu verändern. Wir brauchen die Diskussion vieler Fragen, Problembewusstsein und Visionen. Christinnen und Christen sind in der Lage, die Prozesse in der Gesamt­gesellschaft voranzutreiben. 

Verstehen Sie das aus der Heiligen Schrift begründete Manifest auch als klares Kriterium dafür, was Christen glauben und welche ­Auffassungen damit unvereinbar sind?

Wir benennen, was für uns wichtig und unverzichtbar ist. Manches davon ist weit entfernt, Mehrheitsmeinung zu sein. Und einiges muss in seiner Bedeutung noch durchbuchstabiert werden. 

Nehmen Sie Jesus, den Juden. In Gottesdienst und Konfirmations­unterricht gilt immer noch als Mehrheitsmeinung, dass sich Jesus von Tag 1 seiner Verkündigung von seinen jüdischen Wurzeln trennt und das Christentum beginnt. Dass wir Christ*innen die ganze Zeit des Neuen Testamentes über eine jüdische Sekte waren und die Grenzziehungen später ­erfolgten, ist noch nicht im Alltag angekommen. Sonst wären viele Aussagen zum Gesetz so nicht mehr möglich. 

Migration als Mutter der Entwicklung ist mehr als Gastfreundschaft. Wenn Gesellschaft nicht mehr Monokultur, sondern Hybrid ist, dann ist das Fremde Bereicherung und nicht Bedrohung. Dann steht im Zentrum nicht Abgrenzung, sondern Überwindung von Feindschaft und Gewalt. Das gibt es aber nicht geschenkt, sondern ist ein ­langer Aushandlungsprozess. 

Sie laden zur Auseinandersetzung um den richtigen Weg und die richtigen Ziele unserer Kirche und unseres Landes ein und erwarten Streit statt Zustimmung. Warum? Weil auch in Gemeindekirchen­räten AfD-Mitglieder oder -Sympathisanten sitzen?

Um voranzukommen, müssen wir streiten. Wir packen unsere Positionen auf den Tisch und erwarten, dass das andere auch tun. Unser ­synodales System ist auf Kompromisse angelegt. Wir halten es für notwendig, dass auch die Klarheit der Ursprungsposition auf den Tisch kommt. Der Kompromiss steht am Ende, nicht am Anfang. Und manchmal muss eben auch bleibender ­Dissens festgehalten werden. Wir leben in einer Zeit der Gegensätze, die wir nicht durch Ausgrenzung oder Ignorieren lösen können, ­sondern nur durch offenen Streit. 

Die Auseinandersetzung um Weltoffenheit und Nationalismus finden in allen Parteien statt. Anti­semitismus gibt es in der Rechten und in der Linken, im Islam und bei unseren palästinensischen Schwestern und Brüdern. Islamophobie ­begegnet uns allerorten. Gleich­berechtigungsfragen und die Überwindung von Rassismus brauchen Lösungen, die noch erarbeitet und umgesetzt werden müssen. Die AfD ist da eher ein Randphänomen.