Kokain sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen, so der Drogenbeauftragte Blienert (SPD) in der “Bild”-Zeitung. In Berlin etwa bekomme man Kokain an jeder Ecke, warnen Fachleute. Ein Mann erzählt von seiner Sucht.
Frank Schilling kann sich noch genau daran erinnern, als Türen und Fenster seiner Wohnung anfingen, sich von selbst zu bewegen. Gestalten, die gar nicht existieren konnten, kamen auf ihn zu. “In den ersten drei Stunden nach dem Koksen habe ich noch die halbe Wohnung renoviert. Aber dann kamen die Halluzinationen.” Er verrammelte Fenster und Türen, saß allein in dem abgeschlossenen Raum – und es schüttelte ihn vor Angst.
“Ich habe mir mit dem Koks die Nebenhöhlen weggeschossen”, sagt der 57-Jährige heute, ein paar Jahre später, als er in einer Suchtberatungsstelle der Berliner Caritas seine Geschichte erzählt. “Damit habe ich noch Glück gehabt. Damit kann man leben.”
Der Kokainmissbrauch in Deutschland hat nach Erkenntnissen der Krankenkasse Barmer drastisch zugenommen. Im Jahr 2023 waren deshalb in Deutschland 65.000 Personen in Behandlung und somit mehr als dreimal so viele wie vor zehn Jahren, so eine aktuelle Auswertung.
Auch die Zahl der Todesfälle nach Drogenkonsum steigt: 2023 hat das Bundeskriminalamt 2.227 drogenbedingte Todesfälle registriert – etwa doppelt so viele wie vor zehn Jahren und rund zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Es ist der deutsche Höchststand an Drogentoten.
17,8 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren und etwa 481.000 Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren haben nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen mindestens einmal in ihrem Leben eine illegale Droge konsumiert. Dazu zählte bis zu seiner Legalisierung im April auch Cannabis. Bundesweit wird gekifft, gesnieft, gespritzt und geschluckt.
An Kokain zu kommen, sei zum Beispiel in Berlin kein Problem, sagt Schilling: “Stellen Sie sich einfach auf die Straße und rufen: Wer hat Kokain? Und Sie haben direkt zehn Angebote.” Caritas-Suchtberaterin Denise Aßhoff erzählt von Kokstaxis in der Hauptstadt: “Man kann den Stoff locker im Internet über den Messengerdienst Telegram bestellen. Es wird Ihnen innerhalb einer halben Stunde nach Hause gebracht.” Ansonsten tue es auch jeder Berliner Park. Man müsse sich nur suchend umschauen.
Tatsächlich wird hierzulande so viel Kokain konsumiert, dass es anhand seines Abbauprodukts Benzoylecgonin im Wasser der Flüsse leicht nachweisbar ist. Dabei sind die Risiken bei Kokain-Konsum sehr hoch: Krampfanfälle, Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma, Wahnvorstellungen, Herzinfarkt, tödlicher Kreislaufzusammenbruch. Trotzdem wird Kokain über alle Bevölkerungsschichten hinweg konsumiert.
Schillings Suchtgeschichte fängt bereits in seiner Kindheit an: Der Vater war alkoholabhängig, er selbst fing als Jugendlicher an zu trinken. “Ich war der Held, weil ich so viel vertragen konnte.” Mit 30 machte er seine erste Therapie wegen Alkoholabhängigkeit, fing aber nach der Entlassung immer wieder an, um Druck abzubauen oder abzuschalten. “Ich bin eher schüchtern und sensibel und komme mit vielen Lebenslagen nicht klar”, sagt Schilling.
Die Integrative Suchtberatungsstelle der Caritas in Lichterfelde ist Berlins älteste Einrichtung dieser Art. Auch Christiane F., die in den 1970er Jahren ihr berühmtes Buch “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” schrieb, soll damals hier beraten worden sein. Alkoholabhängigkeit der Eltern, Missbrauch oder Vergewaltigung: “Hinter jeder Sucht steht ein Schicksal”, sagt Sozialarbeiterin Aßhoff. “Diese Menschen habe die falschen Lösungen für ihre Probleme gefunden.”
Nach einem aktuellen Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht gibt es eine Tendenz zu sogenanntem polyvalentem Drogenkonsum: Die Menschen konsumierten mehrere Substanzen gleichzeitig, manchmal völlig unkontrollierte und hochriskante Mischungen.
Diese Erfahrung hat auch Aßhoff gemacht, besonders bei jungen Leuten: “Es ist erschreckend, wie wahllos die Jugend Drogen konsumiert, Cannabis, Kokain, aber auch harte Opiate, LSD, Heroin”, erzählt sie. Sie ärgert sich deshalb besonders, wenn etwa in Netflix-Serien der coole Drogenbaron Koks schnupft: “Drogen werden zu oft verherrlicht. Die Verelendung sieht man nicht so oft.”
Frank Schilling fing mit dem Kokain an, als seine Mutter vor ein paar Jahren starb. Schnell schnupfte er sehr hohe Dosen. Ein Gramm kostet rund 70 Euro, Schilling bestellte 20 Gramm. “Und das war in drei Tagen weg. Ich habe mich fast umgebracht mit dem Mistzeug”, sagt er.
Erst als seine Frau, mit der er seit mehr als 20 Jahren zusammen war, sich von ihm trennte, begriff er, dass er etwas ändern musste – “entweder leben oder sterben”, sagt Schilling. Er entschied sich fürs Leben, machte erneut eine Therapie – und reinen Tisch. In der Firma und auch im Freundeskreis: “Ich habe bei der Arbeit gesagt: ‘Ich bin süchtig, und ich komme damit nicht klar.'”
Schilling hat lange gebraucht, um sich seine Sucht einzugestehen. “Süchtige sind groß im Geschichten erzählen und rausreden”, sagt er. “Irgendwann geht die Lüge leicht über die Lippen. Ich habe es meiner Partnerin schön geredet. Und mir selbst auch.” Als sie nach Hause kam und er im Koma auf dem Boden lag. Als er aufwachte und heftig am Kopf blutete – durch einen Sturz in einen schweren Schrank.
Mittlerweile ist er wieder mit seiner Frau zusammen. Er fährt leidenschaftlich gern Rad, reist und erzählt gerne. Dass er lange Zeit alkohol- und drogenabhängig war, sieht man dem schlanken Mann mit markanter Brille, blauem Pulli und Jeans nicht an. “Ich hatte Glück. Andere sind tot, landen auf der Straße oder im Gefängnis.”
Für seinen neuen Weg hat Schilling lange gekämpft – auch mit anderen zusammen: In einer Selbsthilfegruppe, die er gegründet hat und die zwei Mal im Monat in den Räumen der Caritas tagt, ist der jüngste 21 Jahre alt, die älteste über 70. “Wenn es einem von uns schlecht geht, ruft er jemanden aus der Gruppe an, bevor er schwach wird”, berichtet Schilling.
Suchtberaterin Aßhoff sagt: “Viele Menschen werden auch rückfällig, weil sie in der Gesellschaft keinen Anschluss finden.” Hier sei ein allgemeines Umdenken nötig. “Das Thema muss raus aus der Tabuzone. Keiner lebt gern im Dreck.”