Die in Deutschland lebende Filmemacherin Narges Shahid Kalhor möchte den mittleren Teil ihres Namens tilgen lassen. “Shahid” ist ein Filmhybrid zwischen Autobiografie und Autofiktion, Dokumentation und Performance.
Vom bayerischen Kreisverwaltungsreferat führt der Weg direkt in die Therapiesitzung. Dabei konnte Narges Shahid Kalhor der Sachbearbeiterin fast alle Dokumente vorlegen, die für eine Namensänderung notwendig sind – von der Einbürgerungsurkunde über die Angaben zu den Einkommensverhältnissen bis hin zur Antragsbegründung. Nur ein psychologisches Gutachten über die seelische Belastung fehlte.
So findet sich Narges Shahid Kalhor in der Praxis des Therapeuten Ribbentrop wieder und erzählt, was es mit dem Namen “Shahid” auf sich hat, warum sie ihn so dringend loswerden möchte und wer die von ihrem Urgroßvater angeführten tanzenden Männer in den langen Gewändern sind, die ihr mit ihren seltsamen Kopfbedeckungen auf Schritt und Tritt folgen und sie selbst nachts belagern.
“Shahid” sei ein Märtyrer, jemand, der gewillt sei, für seinen Glauben zu sterben, erklärt Kalhor. Einer, der nicht mehr existiert, der tot ist. Unter Trommelwirbel vollzieht sich, ausgehend von einem Historien-Wimmelbild, eine kurze Zeitreise ins beginnende 20. Jahrhundert im Iran. Dort wurde Mirza Gholam Hossein Teherani, der Urgroßvater der Filmemacherin, während der Konstitutionellen Revolution getötet. Kalhor möchte mit dem “Heldentod”, der seinen Nachkommen den Namen Shahid bescherte, nichts zu tun haben.
Der Analytiker bescheinigt seiner Patientin eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung und empfiehlt eine tiefenpsychologische Therapie. Später rät er ihr, das Trauma zu vergegenständlichen und die Vergangenheit auf diese Weise hinter sich zu lassen.
“Shahid” ist eine ebenso persönliche wie kollektive Exil-Erzählung im “unvollständigen Chaos”. So sagt oder vielmehr singt es die Schauspielerin Baharak Abdolifard, die in dem Film die Regisseurin Narges Kalhor als eine Art Avatar verkörpert. Sie möchte Ordnung schaffen, Ballast loswerden und die Truppe der Vätergeneration für immer abschütteln. Doch es ist wie verflixt: Mit jedem Schritt in die richtige Richtung scheint sich eine weitere Schicht an ihrer Biografie anzulagern. Bis Kalhor irgendwann erschreckt feststellt, dass sie die ganze Zeit möglicherweise die falsche Geschichte erzählt und ihre Fixierung den Blick auf die Frauen in ihrer Familie verstellt hat.
Das “unvollständige Chaos” produziert einen hybriden Film, der verschiedene gesellschaftliche und politische Verhältnisse in den Blick nimmt: die patriarchale iranische Gesellschaft, Ungerechtigkeiten des deutschen Asylrechts, Absurditäten der Bürokratie und verbreitete Alltagsrassismen. Etwa die Ignoranz im Aussprechen oder vielmehr “Misssprechen” von Namen.
In schlingernden Bewegungen navigiert der Film zwischen Autobiografie und Autofiktion und mischt Musical, Re-Enactment und Making-of-Momente, Dokumentarisches und Performatives, auf Körper projizierte Archivbilder, Green Screen und Puppen, Zeitlupe und Zeitraffer. Der Ton ist durchweg tragikomisch. Bei aller Last, die die Filmemacherin seit vielen Jahren mit sich herumträgt, ist ihr ein widerspenstiger Schalk eigen. Nachdem sie zunächst nur als intervenierende Stimme aus dem Off präsent ist, tritt sie bald auch als Protagonistin vor die Kamera und legt in Bruchstücken ihre eigene Migrationsgeschichte frei.
2009 beantragte Kalhor als Tochter eines politischen Beraters des damaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschād während eines Festivalbesuchs in Deutschland politisches Asyl. Nach drei Monaten, die sie in einer Geflüchteten-Unterkunft in Zirndorf verbrachte, bekam sie die Bewilligung.
Im Laufe des Films tauchen neue Hürden auf, die der Regisseurin die Namensänderung erschweren. Durch ihre doppelte Staatsangehörigkeit kann eine Änderung in ihrem Ausweis nicht einseitig erfolgen, erfährt sie von einer Mitarbeiterin der Behörde. Dann drückt sie ihr die Adresse des iranischen Konsulats in München in die Hand, und alles scheint von vorne zu beginnen.