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Seit 200 Jahren sorgen Umfragen für Schlagzeilen

In Sachsen, Thüringen und Brandenburg wird bald ein neuer Landtag gewählt. Schon jetzt liefern die Umfrageinstitute der Republik Prognosen ohne Ende. Hört das denn niemals auf? Die große Mehrheit der Experten sagt: Nein.

“Umfrage-Alarm! Biden-Alternative wäre noch chancenloser gegen Trump” – “Grill-Umfrage: Was Deutsche am liebsten auf den Rost legen” – “Fast alle halten sich für gute Autofahrer” – “Ist Generation Z wirklich so faul?” Umfragen, wohin das Auge blickt. Und die Sonntagsfrage zur aktuellen politischen Stimmung hierzulande ist dabei noch gar nicht mit eingerechnet. Woher aber kommt das Interesse an Trends und Meinungen, an Balken- oder Tortendiagrammen, an Verlusten oder Zugewinnen von Parteien in Prozentpunkten?

Die Suche nach Antworten auf diese Urfrage zum Umfragen-Ursprung führt in die USA. Dort sollen vor 200 Jahren, im Sommer 1824, erstmals Ergebnisse aus politischen Befragungen veröffentlicht worden sein. Gern genannt in derartigen Zusammenhängen: ein Beitrag im “Pennsylvanian” vom 24. Juli 1824. Nicht nur die Macher dieser in Harrisburg erscheinenden Zeitung wollten damals wissen, wer bei den Präsidentschaftswahlen am Ende des Jahres das Rennen machen würde.

Erstmals seit 1800 war der Wahlausgang völlig offen. Gleich vier Kandidaten bewarben sich um das höchste Amt im Staat: der Held des britisch-amerikanischen Krieges von 1812, General Andrew Jackson, der aus der einflussreichen Polit-Dynastie stammende Außenminister John Quincy Adams, der populäre Finanzminister William H. Crawford sowie der begnadete Redner und Sprecher des Repräsentantenhauses Henry Clay. Wer würde der sechste Präsident der USA werden? Ein Fest für Kaffeesatzleser, Journalisten und Politprofis kündigte sich an.

Die ersten Erhebungen fanden allerdings auf einer recht schmalen Basis statt, wie Tom W. Smith schon vor Jahren in einem Beitrag für die Fachzeitschrift “Public Opinion Quarterly” festhielt. Mancherorts konnten Gäste von Wirtshäusern ihre Präferenzen in einem “poll book” hinterlassen. Anderswo zählte man die Anzahl der Toasts, die während der Feiern zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli auf einen der Kandidaten ausgebracht wurden.

Das Bedürfnis, die Stimmung im Volk zu erfassen, blieb nicht allein auf die USA beschränkt. In Deutschland beispielsweise versuchten Soziologie-Papst Max Weber und der evangelische Pastor Paul Göhre, sich in den 1890er-Jahren mittels Fragebögen einen Eindruck zur Lage der Landarbeiter zu verschaffen. Es sollten allerdings noch einige Jahre vergehen, bis aus eher zufälligen Erhebungen die hohe Kunst der politischen Meinungsforschung wurde, mit dem Ziel, die Zukunft wenigstens ein bisschen berechenbarer zu machen.

Expertinnen wie die Historikerin Anja Kruke vom Archiv der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung datieren die eigentliche Geburtsstunde der Umfrage deswegen auf das Jahr 1936. Schauplatz des Geschehens: abermals die USA, und abermals ging es um die Präsidentschaftswahl. Öffentlichkeitswirksam kündigte ein gewisser George Gallup damals an, “mit einer direkten (mündlichen) Befragung von 2.000 Personen das Ergebnis der Wahl besser voraussagen zu können als die traditionelle (schriftliche) Leserumfrage der Zeitschrift ‘Literary Digest'”, so Kruke.

Gallup gewann seine Wette, und die neue Disziplin legte im Zweiten Weltkrieg an Bedeutung zu. “Sie half, Soldaten genauso wie die gesamte US-amerikanische Gesellschaft und auch die der Kriegsgegner zu beobachten und daraus Rückschlüsse für das eigene Vorgehen und Argumentieren zu finden”, bilanziert Kruke. Nach 1945 zog Europa nach. In Westdeutschland gründete Elisabeth Noelle-Neumann 1947 am Bodensee das Institut für Demoskopie Allensbach. Inzwischen tummeln sich eine ganze Reihe von Anbietern auf dem Markt: Forsa, Infratest dimap, dazu Ipsos, Kantar oder You Gov und die Forschungsgruppe Wahlen. Letzter großer Auftritt: die Europawahlen. Nächster Auftritt: die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg.

Digitale Datenmassen dürften nach Ansicht von Fachleuten das Betätigungsfeld für Meinungsforscher künftig sogar noch erweitern. Im Gegenzug wird das interessierte Publikum weiter augenrollende Politiker erleben, die betonen, dass die aktuellen Umfrageergebnisse für ihre Partei nur eine Momentaufnahme darstellen. Die Geschichte lehrt: Vorsicht ist immer geboten. Im “Pennsylvanian” lag 1824 Andrew Jackson auf dem ersten Platz. Letztlich wurde dann aber John Quincy Adams neuer US-Präsident.