Manchmal kann ein einziger Augenblick die Frage von Freundschaft oder Feindschaft entscheiden. Als ich Harald Rohr das erste Mal sah, war das so. Harald hielt Gottesdienstvertretung in unserer Gemeinde. Da saß er. Auf den Stufen zum Altarraum. Und weil er den Talar lässig hochgeschoben hatte, sah man, was Harald darunter trug: nackte Waden in groben Socken und derben Wanderschuhen.
Die Hälfte war empört. Die andere verzückt
Klar, es war Sommer und heiß. In jeder anderen Situation hätte ein praktisch veranlagter Mensch die kurzen Hosen vermutlich akzeptieren können. Dass Harald aber so als Pastor im Gottesdienst auftrat, das hat ihm die Hälfte der Gemeinde nicht verziehen.
Die andere Hälfte aber – und dazu zählten wir, die Mitglieder der Jugendarbeit ausnahmslos – hatte ein neues Idol gefunden.
Ein Pfarrer, der sich so gar nicht um bürgerliche Konventionen zu scheren schien. Der mit tiefer Inbrunst von der Liebe Jesu erzählte. Und davon, dass diese Liebe allen Menschen gilt; auch denen in Südafrika, im Regenwald von Amazonien und im fernen Südostasien.
Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass ich mit meinen 15 Jahren verändert aus dem Gottesdienst hinausging.
Im Laufe der Jahre sind wir uns dann immer wieder begegnet. Harald war Gemeindepfarrer in Herne-Baukau, Berater für Kriegsdienstverweigerer, Regionalbeauftragter für Brot für die Welt, Gründer und Leiter des damaligen „Informationszentrums 3. Welt“ (heute: „Eine Welt Zentrum“), Autor für UK („Kirchenmaus“, „Am Rande“), seit seinem Ruhestand dann ehrenamtlich Tätiger für Brot für die Welt in Ostdeutschland. Bei all diesen Tätigkeiten wich Harald Rohr nicht einen Millimeter von seiner Linie ab. Er polarisierte. Er konnte kompromisslos sein, sperrig. Zuweilen von einer schier unglaublichen Härte. Wenn er einem dann mit festem, manchmal fast einschüchterndem Blick in die Augen schaute, dann gab es Momente, „wo mit ihm nicht gut Kirschen essen war“, wie sich Martin Domke, sein Nachfolger in der Leitung des Eine Welt Zentrums, erinnert.
Auf der anderen Seite spürte man, dass dieser Mensch eine Mission hatte: Gerechtigkeit. An den Friedensdemos der frühen 80er Jahre war Harald Rohr maßgeblich beteiligt. Er brachte den fairen Kaffee nach Westfalen. Faire Teppiche, Schnittblumen, Kinderprostitution, Landminen, Rüstungsexporte … die Liste seiner Kampagnen ist viel zu lang, um sie hier abzudrucken.
Aber, und das unterschied ihn von vielen anderen, bei Harald hat man nie den Eindruck, dass sein gesellschaftspolitischer Einsatz ideologisch beschränkt war. Sein Handeln entsprang der Liebe zum Nächsten. Haralds Mischung aus tiefer Jesus-Frömmigkeit und gesellschaftskritischem Engagement hat für viele von uns, deren Bahn er kreuzte, überhaupt erst den Weg bereitet, den christlichen Glauben zu leben. Über 30 Jahre lang hat er den Fürbittendienst betrieben, also regelmäßig Gebetsvorschläge für die Gottesdienste der Kirche gemacht.
Harald Rohr hatte ein gutes, ein weites Herz. Jetzt ist Harald gestorben. Im Alter von 75 Jahren erlag er einer kurzen, schweren Krebserkrankung. Noch vom Krankenbett aus hat er gearbeitet. Die Worte aus seinem letzten Rundbrief an seine Freunde: „Ich selber hoffe und sehne mich weiter nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt.“
Mach‘s gut da oben, Harald. Wir werden uns wiedersehen.