Der deutsche Priester Manfred Deselaers arbeitet als Seelsorger im Zentrum für Dialog und Gebet in Auschwitz. An diesem Montag wird vor Ort der Befreiung des Vernichtungslagers gedacht – mit nur noch wenigen Zeitzeugen.
Aus Sicht von Pfarrer Manfred Deselaers (69) bedeuten die diesjährigen Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz einen “deutlichen Einschnitt” in der Erinnerungskultur. Denn nur noch sehr wenige frühere Häftlinge lebten, berichtet Deselaers im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Warschau: “Das heißt, diese ganze Generation der Zeitzeugen im direkten Sinne geht zu Ende.”
Deselaers lebt und arbeitet seit 1990 in Auschwitz (Oswiecim). Für sein seelsorgerliches Wirken im Zentrum für Dialog und Gebet wurde er in Polen und in der Bundesrepublik ausgezeichnet.
KNA: Herr Pfarrer Deselaers, der 27. Januar steht vor der Tür, der 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Mit welchen Gefühlen schauen Sie auf diesen Termin?
Deselaers: Mit dem Gefühl, dass es wohl das letzte Mal sein wird, dass noch Überlebende zu der Gedenkveranstaltung nach Auschwitz kommen werden. Wobei man dies schon oft gesagt hat. Tatsächlich leben heute aber wirklich nur noch sehr wenige frühere Häftlinge, meist solche, die damals Kinder waren. Das heißt, diese ganze Generation der Zeitzeugen im direkten Sinne geht zu Ende. Das ist ein deutlicher Einschnitt.
KNA: Was kann man von dieser Veranstaltung im Jahr 2025 erwarten?
Deselaers: Es werden sehr viele Staatsoberhäupter mit ihren Delegationen und Vertreter verschiedener Organisationen kommen. Dazu die noch lebenden Zeitzeugen. In einer Welt des Egoismus und der wachsenden Konfrontationen setzt die Gedenkveranstaltung in Auschwitz einen deutlichen Gegenakzent. Ein Zeichen der gemeinsamen Erinnerung und der gemeinsamen Verantwortung. Dieses Zeichen ist mit Blick auf den wachsenden Antisemitismus und die allgemeine Tendenz zur Abgrenzung besonders wichtig. Es ist beeindruckend, wie viele Menschen das spüren.
KNA: Das Vernichtungslager Auschwitz wurde 1945 von der Roten Armee befreit. Russische Repräsentanten werden diesmal aber im Unterschied zu früheren Gedenkfeiern fehlen. Bedauern Sie das?
Deselaers: Das ist tragisch, aber politisch wohl notwendig. Bis vor dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine waren russische Repräsentanten dabei. Vielleicht wird es einmal wieder möglich sein. In der “Ukrainischen Front” der Roten Armee, die Auschwitz befreite, waren viele Ukrainer, auch Russen und andere. Aber wir denken bei der Zusammenkunft nicht nur an die vergangene Geschichte, sondern auch an die heutigen Konflikte. Russland führt einen mörderischen Krieg, um – unter dem Vorwand, Nazis zu bekämpfen – die Unabhängigkeit der Ukraine zu vernichten. Welchen Sinn macht dann ein gemeinsames Feiern der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz? Ich bin jedoch nicht Politiker, sondern Seelsorger, und als solcher suche ich auch nach Wegen zu menschlichen Begegnungen mit den Menschen Russlands.
KNA: Fürchten Sie, dass es inzwischen einen gewissen Abnutzungseffekt gibt, was die Erschütterungskraft betrifft, die von Auschwitz ausgeht?
Deselaers: Eine Erschütterung in der Tiefe lässt sich nicht erzwingen. Aber den Organisatoren der Gedenkstätte gelingt es sehr gut, Auschwitz als Lernort zu betreiben und die Geschichte dessen, was damals geschah, authentisch zu erzählen. Fast zwei Millionen Menschen aus der ganzen Welt kommen jährlich zu der Gedenkstätte. Für den Festakt wird über dem Eingangstor ein großes Zelt aufgebaut, und die Gäste werden dort sitzen, wo die Transporte nach Birkenau stattfanden. Es kann wohl keine stärkere Symbolik geben.
KNA: Sie gehören zur ersten deutschen Nachkriegsgeneration und wurden als junger Mensch, wenn auch nicht in der Schule, mit der deutschen Schuld konfrontiert. Heute kommen Besucher nach Auschwitz, deren Geburt zeitlich weit von den Nazi-Verbrechen entfernt liegt. Macht das die Vermittlung schwieriger?
Deselaers: Der Schock darüber, dass diese Dimensionen der Entmenschlichung und Vernichtung und damit auch von Schuld möglich waren, wird bleiben. Wenn ich Gruppen begleite, möchte ich, dass sie begreifen, dass jeder Mensch Verantwortung trägt. Das ist es auch, was die ehemaligen Häftlinge wollen. Niemand hat etwas davon, wenn wir deprimiert und von einem diffusen Schuldgefühl gelähmt rumlaufen. Alle haben etwas davon, wenn wir eine bessere Welt schaffen. Das geht nur, wenn jeder Mensch seine individuelle Verantwortung erkennt: Es liegt an mir und nicht nur an irgendwelchen Leuten da oben. Ich habe meine Verantwortung da, wo ich lebe, um das, was jederzeit wieder geschehen kann, zu verhindern.
KNA: Gibt es aus Ihren vielen Begegnungen mit Zeitzeugen ein Erlebnis, das Sie einschneidend geprägt hat?
Deselaers: Bei den vielen Begegnungen mit Überlebenden haben mir fast alle erzählt, wie und wo sie mal einen guten Deutschen getroffen haben. Das war nett gemeint, als Brücke sozusagen, aber mich hat das stets beschämt, weil das damals offenbar die große Ausnahme war.
KNA: Als Seelsorger sind Sie ein Fachmann für die Seele. Lassen sich die in Auschwitz erlittenen Wunden überhaupt aufarbeiten und heilen?
Deselaers: Jeder ehemalige Häftling ist anders, hat andere Sachen erlebt. Polen, Juden, Roma und Sinti sind damals aus völlig unterschiedlichen Leben herausgerissen worden. Diejenigen, die überlebten, haben oft große Teile ihrer Familie verloren und eine ganz neue Existenz woanders aufbauen müssen. Das prägt, wie immer man dieses Syndrom, diese Traumata psychologisch auch benennen mag. Doch ich bin bei vielen dieser Menschen der positiven Kraft der Menschlichkeit begegnet. Das war für mich auch sehr wichtig.
KNA: Hat Ihr Priesterdienst manches erleichtert oder erschwert?
Deselaers: Sowohl als auch. Es geht vor allem um Glaubwürdigkeit. Von katholischen Polen habe ich vielleicht qua Amt den größeren Vertrauensvorschuss bekommen. Aber es geht immer um die Dimension des Menschseins, auch beim Glauben. Manche haben mir gesagt: “Manfred, ich muss dir sagen, in Auschwitz habe ich keinen Gott getroffen.” Andere haben gesagt: “Dank des Glaubens habe ich überlebt.” Ich glaube, dass in jedem Menschen ein göttliches Geheimnis wohnt, das zur Liebe beruft.
KNA: Was macht Ihr Zentrum für Dialog und Gebet in diesem Jubiläumsjahr?
Deselaers: Wir haben Dauerbetrieb, weil wir ständig da sind als Gästehaus am Rande von Auschwitz. Den Großteil des Programms gestalten die Gruppen, die kommen, und es sind viele. Der Besuch der Gedenkstätte steht dabei immer im Zentrum. Wir stehen Besuchern und früheren Häftlingen begleitend zur Seite.