Eskaliert die Gewalt an Deutschlands Schulen? An einer Förderschule im badischen Offenburg (Ortenaukreis) hat am Donnerstag ein Jugendlicher einem Mitschüler in den Kopf geschossen. Das Opfer erlag am Abend seinen schweren Verletzungen. In Hamburg sollen am Mittwoch drei Kinder im Alter zwischen 11 und 13 Jahren sowie ein 14-jähriger Jugendlicher an zwei Schulen Lehrer mit einer Waffe bedroht haben.
Matthias Schneider, Geschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – der mit 50.000 Mitgliedern größten Bildungsgewerkschaft im Südwesten -, sieht in der Gewalttat von Offenburg einen „tragischen Einzelfall“. Es gebe keine belastbaren Belege dafür, dass Kinder und Jugendliche heute insgesamt gewalttätiger seien, sagt der 58-Jährige: „Wir haben uns früher auch auf dem Schulhof geprügelt – nur hat das niemand gemeldet.“ Seit einigen Jahren gehe man mit körperlicher Gewalt an Schulen deutlich sensibler um. Trotzdem gebe es nur wenig Datenmaterial dazu.
Laut baden-württembergischem Innenministerium gab es im vergangenen Jahr 4.187 Fälle von Kinder- und Jugendkriminalität an Schulen im Südwesten. Das waren 51,3 Prozent mehr als im Vorjahr, allerdings 9,2 Prozent weniger als im Vor-Corona-Jahr 2019. Erfasst wurden Vorfälle mit mindestens einem Tatverdächtigen unter 21 Jahren an privaten und öffentlichen Schulen im Südwesten. Am häufigsten waren Körperverletzungen.
Schneider möchte dennoch nicht von einer Eskalation körperlicher Gewalt unter Schülern sprechen. Ein viel größeres Problem sieht er im sogenannten Cybermobbing, also dem wiederholten Beleidigen, Bedrohen, und Bloßstellen einer Person in sozialen Medien. Das betreffe allerdings nicht nur Schüler, sondern auch Lehrkräfte. Die Polizei in Baden-Württemberg verzeichnete im vergangenen Jahr insgesamt 63 Straftaten gegen Lehrer. Im Vorjahr waren es 30 Fälle, 2019 ebenfalls 63. Bei 40 der 63 Delikte 2022 handelte es sich um Körperverletzungen.
Den Trend hin zu einer zunehmenden Gewalt gegen Lehrkräfte bestätigt der Verband Bildung und Erziehung im Südwesten. In Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa hat er in den vergangenen Jahren mehrere repräsentative Studien zu Gewaltvorfällen an Schulen durchführen lassen – und dabei Drohungen und Gewalt gegen Lehrkräfte besonders untersucht. Laut der jüngsten Umfrage unter bundesweit 1.308 Schulleitungen, darunter 253 in Baden-Württemberg, vom November 2022 gab es noch nie mehr Fälle von Gewalt gegen Lehrkräfte, noch nie war die Berufszufriedenheit an den Schulen geringer und noch nie war der Lehrkräftemangel größer. Neben Personal- und Zeitmangel nannten die befragten Schulleitungen als größte Herausforderung die Themen Inklusion und Integration. Viele Erstklässler sprächen kaum Deutsch und kämen aus einem völlig anderen Kulturkreis.
Einige weitere Ergebnisse der Umfrage: An sechs von zehn Schulen im Südwesten kam es zu direkter psychischer Gewalt gegen Lehrkräfte, also zu Beschimpfungen, Bedrohungen oder Mobbing; das war ein Anstieg um 14 Prozent im Vergleich zur letzten Umfrage 2018. An jeder dritten Schule gab es Fälle von Cybermobbing gegen Lehrkräfte; diese Zahl hat sich im Vergleich zu 2018 mehr als verdoppelt. An jeder vierten Bildungseinrichtung wurden Lehrkräfte geschlagen, geschubst oder mit Gegenständen beworfen; 2018 berichteten das 16 Prozent der Schulleitungen.