SCHWERTE-VILLIGST – Die Schere zwischen relativ armen und extrem reichen Menschen klafft in Deutschland immer weiter auseinander. Gleichzeitig wird es für Menschen aus sozial schwachen Verhältnissen immer schwerer, aus ihrem Herkunftsmilieu auszubrechen und den Aufstieg zu schaffen. Ist Armut also ein Schicksal? Mit dieser Frage beschäftigten sich Vertreterinnen und Vertreter aus Kirche und Politik bei der Politikertagung in Haus Villigst, zu der die Evangelische Kirche von Westfalen traditionell einmal im Jahr einlädt.
Wer über Armut spricht, müsse auch den Reichtum erwähnen, forderte Präses Annette Kurschus zum Auftakt der Veranstaltung. Sie kritisierte, dass die Spitzengehälter in Unternehmen und Konzernen heute nicht selten bis zu 200 Mal höher seien als die geringsten Löhne, und fragte: „Wieviel Ungleichheit verträgt eigentlich eine Gesellschaft, die auf der grundlegenden Gleichheit ihrer Mitglieder fußt?“
Kurschus bezeichnete die Ungleichheit als Gefahr für eine Gesellschaft, die auf Gleichheit fuße. Laut einer Erhebung der Bundesregierung nehme das Interesse an Politik bei Menschen in Armut um die Hälfte ab. Wenn Menschen das Gefühl hätten, von der Politik nichts erwarten zu können, seien sie anfällig für Feindbilder, die andere für sie bereithielten.
Als vorbildhaft stellte Kurschus die Haltung der Bibel dar, die der Armut niemals mit Fatalismus begegne. Während Kirche und Politik gewohnt seien, „in Knappheitsdiskursen zu denken und zu entscheiden“, sei die Grundhaltung aller biblischer Sozialgesetzgebung die Wahrnehmung der Fülle – des Segens –, die dem Menschen geschenkt sei, so die Präses. „Dieser Segen, die Fülle der Gaben, gehört nie nur mir selbst oder einzelnen andern. Er gehört allen – und im Teilen wird die Fülle nicht weniger, sondern mehr“, sagte Kurschus.
In einem Impulsreferat ging Professor Christoph Butterwegge von der Universität Köln dann hart mit der Politik ins Gericht. Durch die Senkung des Spitzensteuersatzes oder die Abschaffung der Erbschaftssteuer für Unternehmen würde Reichtum systematisch steuerlich begünstigt und gefördert, kritisierte der Politologe.
Nach seiner Überzeugung ist Armut in der kapitalistischen Hochleistungsgesellschaft politisch gewollt: „Sie soll zeigen, wie es einem ergeht, wenn man nicht funktioniert.“ Soziale Marktwirtschaft sei nur der Kosename für neoliberale Finanzpolitik, so Butterwegge. Zu den regelmäßigen Armutsberichten erklärte er: „Es fehlt nicht an Daten, sondern an Taten.“
Dass das Problem der Armut nicht von der Politik allein zu lösen sei, unterstrich Rainer Schmeltzer, nordrhein-westfälischer Minister für Arbeit, Integration und Soziales, und lobte die Rolle der Kirche im Kampf gegen soziale Ungleichheit: „Sie sind nah bei den Menschen.“
Das Land bekämpfe Armut etwa in der Initiative „NRW hält zusammen … für ein Leben ohne Armut und Ausgrenzung“ und mit dem Programm „Starke Quartiere – starke Menschen“. Doch der Kampf gegen Armut beginne bei einer entsprechenden Bundesgesetzgebung, wo etwa die Einführung des Mindestlohns erfolgreich gewesen sei. Schmeltzer betonte jedoch auch: „Die Reduzierung von Armut und sozialer Ausgrenzung braucht einen langen Atem.“
Der zweite Tag der Tagung präsentierte praktische Beispiele der Armutsbekämpfung, etwa die Evangelische Stiftung Maßarbeit im Kirchenkreis Herford für Langzeitarbeitslose oder das Sozialkaufhaus der Diakonie in Dortmund.
Einig waren sich die Teilnehmenden der Tagung, dass Armut kein Schicksal ist, weil sie von Menschen gemacht wird – und dass es langfristiger Veränderungen bedarf, um sie wirksam zu bekämpfen.
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Schicksalsfrage Armut
Beim diesjährigen Treffen von Kirchenvertretern und Politikern in Haus Villigst ging es um die Ungleichheit in der Gesellschaft und die Möglichkeiten der Armutsbekämpfung
