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Russland verstehen mit Inna Hartwichs “Friedas Enkel”

Inna Hartwich ist Korrespondentin in Russland. In ihrem autobiografischen Buch „Friedas Enkel“ beschreibt sie, wie Gewalt Alltag und Gesellschaft in Russland bis heute prägt.

Inna Hartwich, Korrespondentin in Russland und Buchautorin
Inna Hartwich, Korrespondentin in Russland und BuchautorinSüdkurier

Als Inna Hartwichs Großmutter Frieda noch gelebt hatte, war sie ihr fremd geblieben. Jetzt hat die Journalistin, die als Russland-Korrespondentin für verschiedene Zeitungen im deutschen Sprachraum berichtet, ein Buch über ihre Oma geschrieben und hat. Sie sagt selbst: jetzt hat sie verstanden, warum sie so geworden ist, wie sie war.

Die Großmutter war der achtjährigen Inna Hartwich fremd gewesen, als die Familie noch am Ural in der Sowjetunion lebte und sie mit den Eltern zu Besuch bei der Oma war. Da hatte die Oma eine große Pfanne mit vor Fett triefenden Kartoffelpuffern auf den Tisch gestellt und gefordert: „Fresst“. Sie blieb dem 12-jährigen russlanddeutschen Mädchen fremd, als sie sich in Deutschland im Übergangswohnheim ein Zimmer mit ihr teilen musste. Die Lebenserfahrung der Oma „Wenn du bestehen willst im Leben, musst du einfach die Klappe halten“ passte nicht zu dem Mädchen, das neugierig auf die neue Umgebung zuging und Fragen stellte.

Inna Hartwich spricht mit Ukrainern und Esten

Die Großmutter war längst tot und Inna Hartwich bereits Journalistin, als sie den Namen der Oma auf einer Liste der Organisation Memorial für die Opfer des Stalinismus las. Sie begann, Verwandte zur Geschichte der Familie zu fragen, die verschwiegen wurde. Später las sie Akten und bereiste einige Orte der Geschichte ihrer Familie. Sie besuchte den verlassenen Ort im hohen Norden Russlands, in dem ihre Großeltern im Arbeitslager schuften mussten. Und sie sprach mit Ukrainern und Esten, die an dem Ort ihrer Verbannung geblieben waren. Hier hatte die Oma Bäume gefällt, gehungert und alle ihre Kinder durchbekommen, weil sie „die Klappe gehalten“ hatte. Sie hatte Gewalt erlebt und Gewalt weitergegeben.

Teilausschnitt Buchcover "Friedas Enkel"
Teilausschnitt Buchcover "Friedas Enkel"Verlag Frankfurter Allgemeine Buch

Inna Hartwich hatte Orsk besucht, die Stadt, in der sie selbst 1980 geboren wurde, nachdem die Familie das Arbeitslager verlassen durfte. Die Stadt ist heute von Zerfall geprägt, sichere Jobs gibt es nur bei Polizei und Militär. Manche Söhne wandern aus, weil sie diese Perspektive nicht wollen.

Hartwich gelingt der Spagat zwischen Distanz und Nähe in Russland

Inna Hartwich verwebt in ihrem Buch, das zwischen Roman und Sachbuch angesiedelt ist, die Geschichte ihrer Familie mit der Realität im heutigen Russland, in dem Hartwich seit 2018 als Korrespondentin mit ihrer Familie mit immer nur kurzzeitigen Visa lebt. Sie erzählt an vielen Beispielen die Gewalt im heutigen Russland, die viele Menschen als selbstverständlich hinnehmen oder ihr gleichgültig gegenüberstehen, „einfach die Klappe halten“, weil sie gelernt haben, dass sie nur so durchkommen. Sie beschreibt die Militarisierung der russischen Gesellschaft bis hinein in den Kindergarten im Zuge des Krieges in der Ukraine. Gewalt, die von vielen Menschen ebenso wenig infrage gestellt wird wie von ihrer Großmutter das Arbeitslager mit Stacheldraht und Schlägen. Ein Erbe der in Russland nicht aufgearbeiteten Stalin-Zeit.

Übergangsheim Friedland 2005 für Russlanddeutsche
Übergangsheim Friedland 2005 für RusslanddeutscheImago / photothek

Inna Hartwich, die als Kind die Sowjetunion erlebte, das heutige Russland erlebt, aber in Deutschland erwachsen und geprägt wurde, hat sowohl Nähe als auch Distanz zum von Gewalt geprägten Alltag in Russland. Dadurch kann die Autorin sehr emotional Alltagsszenen aus der Sicht von Menschen in Russland erzählen, die sie aber ganz anders erlebt als Menschen, die immer vor Ort gelebt haben. Die Distanz ermöglicht ihr die Reflexion dieses Alltags und dessen historische Erklärung.

Eher am Rande des Buches spielt die Religiosität der Großmutter und Enkelin eine Rolle. Sich selbst beschreibt Inna Hartwich als atheistisch, ihre Großmutter, in einem deutschen evangelischen Dorf in der heutigen Ukraine aufgewachsen, als gläubige Frau, der die Bibel so wichtig war, dass sie sie mit in die Verbannung nahm. Von der Kirche hielt sie hingegen nicht viel, auch nicht in Deutschland.

Inna Hartwich: “Friedas Enkel. Meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland”, 24 Euro.