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Religion im Uni-Alltag

Die Evangelischen Studierendengemeinden bieten seit Jahrzehnten jungen Frauen und Männern religiöse Heimat in der besonderen Situation des Studiums. Bundesstudierendenpfarrerin Corinna Hirschberg beschreibt, wie

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Evangelische Studierendengemeinden sind kleine Kirchen-Labore: Hier finden junge Menschen eine Heimat auf Zeit und probieren neue Formen von Gemeinschaft und Spiritualität aus. Wie das konkret aussieht, beschreibt Corinna Hirschberg, Bundesstudierendenpfarrerin, im Gespräch mit Anke von Legat.

Rund 120 Evangelische Studierendengemeinden – abgekürzt ESGn – gibt es in Deutschland. Braucht man für Studentinnen und Studenten eine eigene Gemeinde?
Unbedingt. ESGn richten sich an Menschen in einer besonderen Situation: jung und meistens noch ohne Familie, in einer neuen Lebensphase, viele das erste Mal weg von zuhause. Für diese Gruppe gibt es in den Ortsgemeinden meist keine passenden Angebote. Die ESGn an der Schnittstelle von Uni-Betrieb und Kirche können zu einem neuen kirchlichen Zuhause werden – und damit den Kontakt zur Kirche während dieser Zeit ermöglichen.

Was ist denn das besondere Angebot der ESGn?
Sie bieten einen Ort, an dem die Studierenden mit dem, was sie mitbringen, ihren Glauben leben und sich ausprobieren können. Dabei gibt es eine große Offenheit: Man muss nicht tief in der Kirche verwurzelt sein, um mitzumachen. Die jungen Menschen können mit ihren Fragen kommen, die sich aus dem Leben und dem Studium ergeben, und finden eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, eine Heimat auf Zeit.

Wie sieht das konkret aus?
Ein typisches Kernangebot ist der Gemeindeabend: Da trifft man sich zum gemeinsamen Essen, feiert eine Andacht zusammen und spricht über ein Thema. Darüber hinaus gibt es viele verschiedene Gottesdienste, Andachten, Gesprächsabende, musikalische und andere Aktivitäten. Eine wichtige Rolle spielt die internationale Ökumene. Außerdem lebt das Programm stark von der Beteiligung der Studierenden; sie bringen ihre Vorschläge  und Bedürfnisse ein und haben viele Freiheiten zum Experimentieren.

Zum Beispiel?
Gerade erarbeiten wir ein Handbuch mit Liturgien für besondere Gottesdienste: zum Beispiel für einen Gottesdienst, bei dem der Menschen gedacht wird, deren Körper beim Medizinstudium präpariert werden. Oder Gottesdienste für ausländische Studierende, die beim Tod eines nahen Menschen nicht in ihr Heimatland fahren können und einen Ort zum Gedenken brauchen.

Wie sind die Gemeinden organisiert?
Sie leben natürlich von dem Engagement der Studierenden. Es gibt in der Regel eine hauptamtliche Pfarrstelle, die von den Landeskirchen bereitgestellt wird, und ein ehrenamtliches Leitungsgremium. Wie aktiv die Studierenden sich einbringen, ist natürlich sehr unterschiedlich. Diejenigen, die vorher schon in einer Gemeinde mitgearbeitet haben, suchen häufig gezielt nach unseren Angeboten. Andere werden durchs Internet oder durch Mund-zu-Mund-Propaganda auf uns aufmerksam. Wichtig ist auch, dass wir Anlaufstelle für viele ausländische Studierende sind. Wir vermitteln Stipendien; viele ESGn sind in der Arbeit mit Flüchtlingen sehr engagiert: vom Sprachkurs über Übersetzungshilfen bis hin zu Freizeit- und Gruppenangeboten.  

Wie sieht es mit anderen religiösen Gruppierungen an der Uni aus?
Neben den ESGn, die eher landeskirchlich geprägt sind, finden sich die Studentenmission Deutschland (SMD),  „Campus für Christus“ oder die „Navigatoren“ aus dem freikirchlichen Bereich; außerdem natürlich muslimische und jüdische Studierendenorganisationen.
Zum Teil ist die Zusammenarbeit gut, es gibt aber auch Konflikte: etwa bei den Gruppierungen, die Homosexualität ablehnen. Das führt dann zu Auseinandersetzungen mit den Studierendenausschüssen, den ASTen. In den ESGn sind wir offen für verschiedene Ausprägungen des Glaubens und auch für andere Religionen. Bei unseren internationalen Gesprächskreisen wird schon gelebt, was sich in Zukunft auch in den Ortsgemeinden und der gesamten Gesellschaft immer mehr durchsetzen wird: mulitreligiöse Toleranz und Akzeptanz in einem säkularen Umfeld.

Welche Stellung hat Religion an den Universitäten überhaupt?
Da gibt es meiner Beobachtung nach die Tendenz, Religion ganz aus dem Uni-Alltag rauszuhalten, um Konflikte zu vermeiden. So wurden bereits an mehreren Unis Gebetsräume geschlossen. In diesem Zug wird dann gleich alles Religiöse verbannt, weil man sich nicht zutraut, selbst unterscheiden und auswählen zu können. Wir sind bundesweit mit den Rektoraten im Gespräch und werben für ein anderes Verständnis von Religionsfreiheit: nicht als Freiheit von Religion, sondern als Freiheit für den Glauben.
Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Unis, die den ESGn sehr positiv gegenüberstehen und ihnen wichtige Aufgaben im Gesamtgefüge der Hochschule übertragen. Und an einigen Standorten werden neue Räume der Stille eröffnet.

Hat sich die Arbeit in den ESGn in den letzten Jahren verändert?
Auf jeden Fall. Durch den Bologna-Prozess hat sich das Studium seit den 1990er Jahren sehr verdichtet. Die Studierenden haben viel weniger Zeit für kirchliches oder gesellschaftliches Engagement. Sie empfinden stärkeren Druck und wägen daher auch mehr ab: Was bringt mir was, was kann ich mir zusätzlich zum Studium leisten. Auch die Fluktuation hat zugenommen: Meine Kolleginnen und Kollegen erzählen, dass sie fast in jedem Jahr eine ganz neue Besetzung haben.
Außerdem hat sich der Schwerpunkt verschoben: In den 80er Jahren waren die ESGn sehr politisch. Heute suchen die Studierenden bei uns vermehrt auch nach spirituellen Erfahrungen – ohne auf gesellschaftliches Engagement, wie z.B. in der Flüchtlingsarbeit, zu verzichten.