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Politologe: Nukleares Tabu braucht demokratische Öffentlichkeit

Vor 75 Jahren begann der Koreakrieg. Der Politologe Frank Sauer, Forschungsleiter des Metis Instituts für Strategie und Vorausschau an der Universität der Bundeswehr München, beleuchtet die Gründe, warum er nicht nuklear eskalierte. Einige der Gründe wirkten auch heute noch, sagt er. Eine Garantie dafür, dass in der Gegenwart Abschreckung gelinge, gebe es aber nicht.

epd: Herr Sauer, im Koreakrieg kam es trotz Drohungen nicht zum Atomwaffeneinsatz. Heute erleben wir wieder Atomdrohungen, vor allem aus Russland. Was lehrt uns der Krieg in Korea über unsere heutige Situation?

Frank Sauer: Drei Gründe, warum Atomwaffen damals nicht eingesetzt wurden, folgten einer Logik der Konsequenzialität. Wenn ich mir Gedanken mache, dass ich zu wenig Munition habe, dass ihr Einsatz sein Ziel nicht erreicht oder mir durch ihren Einsatz ein Reputationsverlust droht, dann ist das ein Kosten-Nutzen-Kalkül. Ein vierter Grund, die moralischen Skrupel vor allem bei US-Präsident Truman, folgten einer Angemessenheitslogik. In ihrer stärksten Ausprägung ist sie das, was man das nukleare Tabu nennt: ein handlungsleitender Gedanke im Kopf von Entscheidungsträgern, der sagt, dass diese Dinger so oder so niemals eingesetzt werden dürfen.

epd: Können wir denn heute davon ausgehen, dass dieses Tabu in den Köpfen eines Wladimir Putin, eines Xi Jinping oder eines Kim Jong-un besteht?

Sauer: Für ein stabiles und breit geteiltes Tabu braucht es wohl eine demokratische Öffentlichkeit, die über Normen reflektiert und diese stabil im Diskurs hält. Ich würde ein Fragezeichen daran setzen, ob in einer Diktatur wie Nordkorea, China oder Russland ein Tabu in dieser Form entstehen kann. Für jemanden wie Putin, der gewohnheitsmäßig Kriegsverbrechen begehen lässt, spielt eine moralische Handlungsleitung jedenfalls höchstwahrscheinlich keine Rolle.

epd: Gilt dann wenigstens die Logik der Konsequenzialität des Koreakriegs, wie Sie es beschrieben haben, heute noch?

Sauer: Die Furcht vor Reputationsverlust oder Isolation spielt sicher noch eine Rolle. Man weiß, dass China und Indien schon 2022, als die russischen Nukleardrohungen überhandgenommen haben, auf Putin eingewirkt haben, und das hatte einen Effekt. Zudem wirkt die nukleare Abschreckung. Die ist auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung, funktioniert also über die Konsequenzialitätslogik.

Die Gefahr ist, dass wir uns darin täuschen, was das Gegenüber antreibt – etwa, wenn wir glauben, dass es beim Überfall auf die Ukraine um Bodenschätze ginge oder dass wir russische Sicherheitsinteressen verletzt hätten und damit selbst schuld seien. Es geht in Wahrheit um imperiale Vorstellungen und eine russische Dominanz über Europa. Diese Motive sind für uns völlig fremd, sie sind aber trotzdem der wesentliche Grund für den Krieg. Wenn unsere Fehleinschätzung in diesem Punkt dazu führt, dass unsere Abschreckung schwach ist, könnte Putin zu dem Schluss kommen, dass er seine Ziele weiter durchsetzen kann. Zugleich gibt es natürlich keine Garantie, dass Abschreckung gelingt. Wir leben also in gefährlichen Zeiten. (1943/16.06.2025)