Leah Weigand ist gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin und studiert Medizin. Als Poetry-Slammerin ist sie mit dem Text „Ungepflegt“ bekannt geworden – einer ungeschönten Schilderung des Pflegealltags mit seinen Licht- und Schattenseiten. Ulrike Mattern hat mit ihr über ihre Erfahrungen in der Pflege gesprochen und sie auch gefragt, was ihr Glaube ihr in diesem Umfeld bedeutet.
Der Tag der Pflegenden am 12. Mai wird am Geburtstag der britischen Krankenschwester Florence Nightingale gefeiert, die 1820 zur Welt kam. In Ihrem Buch widmen Sie ihr ein „Gelübde“ – was bedeutet sie Ihnen heute?
Leah Weigand: Florence Nightingale war eine Pionierin der Krankenpflege und eine der Ersten, die gesagt hat, dass die Pflege nicht nur ein Hilfsberuf der Ärzte ist. Die Pflege leistet einen eigenen Beitrag zum Heilungsprozess von Patientinnen und Patienten. Aber was diesen Gedanken betrifft, haben wir immer noch einen Weg vor uns. Ich hoffe aber, dass wir da hinkommen, Pflege als eigene Profession mit Fachwissen wahrzunehmen.
Warum ist es im Alltag auf der Station wichtig, wie Sie in diesem Text betonen, die Kolleginnen und Kollegen beim Namen zu nennen und nicht von „der Schülerin“ oder „dem Schüler“ zu sprechen?
Ich habe das in der Ausbildung selbst erlebt: Kolleginnen oder Kollegen wussten im Eifer des Gefechts die Namen der Auszubildenden nicht. Sie sagen zum Beispiel: „Kannst du mal die Schülerin dahinschicken?“ Dann fühlt man sich nicht wertgeschätzt, sondern als eine von vielen und nicht als individuelle Person. Daher finde ich es wichtig, Menschen mit Namen anzusprechen. Das gilt nicht nur für Azubis, sondern für alle, auch für Patientinnen und Patienten. Das birgt für mich Wertschätzung und Respekt.
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Einmal im Jahr wird der Tag der Pflegenden gefeiert. Welche Bedeutung hat er für die Pflegekräfte?
Ich kannte den Tag lange gar nicht. Er ist mir erst in den vergangenen zwei Jahren aufgefallen, weil Kongresse und Veranstaltungen zum Thema Pflege stattfinden. Ansonsten ist der Tag gar nicht so bekannt und daher leider nicht so relevant. Ich fände es aber schön, wenn er – neben der Wertschätzung für die Pflegenden – bekannt wäre als der Tag, an dem wir auf die Ziele unserer Profession schauen: Wo möchten wir noch hin? Was fordern wir?
Ihre Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin fiel in die Zeit der Pandemie. Was ist in Ihrer Erinnerung haften geblieben?
Ich habe 2018 mit meiner Ausbildung angefangen, und das letzte Ausbildungsjahr fiel in die Coronazeit. Das Tragischste waren für mich die Besuchsverbote im Krankenhaus. Gerade wenn man krank oder sogar lebensbedrohlich erkrankt ist oder weiß, dass man sterben wird, braucht man seine Lieben um sich herum. Es war schlimm mitzuerleben, wie Angehörige an der Tür weggeschickt wurden. Menschlich ist viel falsch gelaufen. In der Situation müssten Prioritäten anders gesetzt werden.
Würden Sie die Kritik an dem Pflegeberuf heute noch genauso formulieren wie in Ihrem Gedicht „Ungepflegt“? Oder hat sich vielleicht etwas verbessert?
Ich würde es optimistisch sehen: Es ist etwas auf dem Weg. Die neue Generation in der Pflege wird lauter, sie hat andere Ansprüche; sie schließt sich zusammen, gründet Pflegeverbände und Pflegekammern. Zudem ist durch Corona das Thema präsenter geworden und die Ernsthaftigkeit in der Gesellschaft angekommen. Die ältere Generation war vielleicht etwas genügsamer und hat sich eher zurückgenommen. Trotzdem gibt es noch viel zu tun, bis man Pflege nicht mehr als Hilfsberuf sieht, sondern anerkennt, dass es ein eigener Berufstand ist. Häufig entsteht der Eindruck, dass die Forderungen dafür da seien, dass die Pflegekräfte besser arbeiten und sich wohler fühlen. Stattdessen geht es um die zukünftige Gesundheitssicherung der Gesellschaft mit wenig Pflegekräften und so vielen Menschen mit Pflegebedarf. Die Pflegekräfte wollen nicht gemütlicher arbeiten, um es überspitzt zu sagen, sondern es geht um die Sicherheit und Versorgung aller.

In Krankenhäusern gibt es klar definierte Strukturen und eine Hierarchie. Die Pflegekräfte stehen nicht an der Spitze. Wie beeinflusst Ihr beruflicher Hintergrund als Krankenschwester Ihren Blick als angehende Ärztin?
Ich würde die Pflegeausbildung auf keinen Fall missen wollen und habe viel darüber gelernt, was Menschlichkeit ausmacht. Mein Anspruch ist, mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Pflege auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Ich hatte lange Bedenken, ob ich Medizin studieren soll. Es gibt zwar immer noch krasse Hierarchien auf Station, aber auch hier ist eine andere Generation am Start. Ärztinnen und Ärzte haben mir Mut gemacht, dass ich mit meiner neuen Rolle anders umgehen kann. Es liegt in meiner Hand, und ich habe den Wunsch, als Ärztin nahbar zu sein.
Die Krankenhausseelsorge unterstützt Patientinnen und Patienten, aber auch Pflegekräfte unabhängig von ihrer Konfession in belastenden Situationen. Wie nehmen Sie diesen seelsorgerischen Dienst wahr?
Ich finde diese Arbeit total wichtig, hatte aber oft den Eindruck, dass sie nicht wahrgenommen wird. Seelsorge klingt direkt nach Kirche, nach Gott. Gerade jüngere Patientinnen und Patienten haben das Angebot deshalb oft nicht in Anspruch genommen. Das ist schade. Wenn ich es angeboten habe, habe ich den Begriff vermieden und zum Beispiel gesagt: „Könnten wir Ihnen jemanden zum Reden vorbeischicken?“ Ich würde mir mehr Angebote zum Gespräch auch für die Pflege wünschen, weil wir ja in intensive Grenzsituationen kommen.
Ein stiller, bewegender Text aus Ihrem Gedichtband heißt „Sterbebett“. Sie sind in Ihrem Beruf immer nah an den Menschen, die sehr krank sind oder sterben werden. Wie gehen Sie damit um?
Ich fand es sehr bereichernd, Gespräche mit Menschen zu führen, die bald sterben werden. Manche sind sehr hoffnungsvoll, in Frieden, und freuen sich manchmal auf ein Leben nach dem Tod. Andere sind unruhig, haben Angst vor dem Sterben. Es klingt absurd zu sagen, man findet Sterbebegleitung schön. Aber es waren sehr besondere und schöne Momente, ich darf Trost und Beruhigung schenken. Wenn es dramatische Krankheitsgeschichten waren, habe ich das manchmal mit nach Hause genommen. Der Austausch auf der Arbeit war daher immer sehr wichtig.
Wie achten Sie auf sich? Gibt Ihnen der christliche Glaube oder eine spirituelle Haltung Kraft im Leben?
Ich habe einen Glauben an Gott. So bin ich aufgewachsen. Meine Eltern sind gläubig, ich bin evangelisch. Mein Glaube hat sich im Laufe der Jahre verändert, er wächst mit. Er gibt mir Kraft und Frieden, das habe ich sehr schätzen gelernt – ein friedlicher Ort in einer unfriedlichen Welt. Die biblischen Werte weiten meinen Blick auf andere Menschen, wenn ich zu sehr um mich selbst kreise. Die letzten Jahre drehte sich viel um meinen persönlichen Glauben. In Marburg habe ich jetzt wieder eine Kirche gefunden, in der ich mich wohlfühle und zu der ich gern sonntags hingehe. Mir hat mal jemand gesagt: Selbst wenn du im Gottesdienst gar nichts mitnehmen kannst, hol dir wenigstens den Segen ab!