Da staunte ich nicht schlecht zu Beginn des Mittagsgebetes: Das Paar in seinen Mittfünfzigern war abends zuvor beim Tagesschluss in der Kirche gewesen und hatte am Ende versprochen, tags darauf wiederzukommen. Nun aber standen sie vor mir in Hochzeitskleidung. „Wir haben soeben im Kloster standesamtlich geheiratet, nun möchten wir einen kirchlichen Segen.“ Ein persönlicher Liedwunsch war schnell gefunden: „Großer Gott, wir loben Dich…“ Dann kam die Nachfrage an den evangelischen Pfarrer: „Kennen Sie das?“ Der Hintergrund war schnell klar: Kirchlich getraute Katholiken bekommen nach einer Scheidung keine neuerliche römisch-katholische Trauung.
Aber von vorne: Wir sind in der riesigen Klosterkirche von Jerichow in Sachsen-Anhalt nahe der Elbe. In der 1144 begonnenen Prämonstratenser-Gründung leben schon lange keine Mönche mehr. Das große Backstein-Ensemble gilt mit seinem Museum als Attraktion für jährlich Zehntausende von Durchreisenden. Für sie ist von Mitte Juni bis Mitte September ein sogenannter Präsenzdienst von wöchentlich je zwei Pfarrpersonen gedacht, die still in der Kirche zum Gesprächsangebot anwesend sind und mittags und abends ein kurzes Gotteslob ohne Predigt anbieten.
Gesprächsangebote und kurzes Gotteslob
Dies geschieht im Rahmen der Evangelischen Zehntgemeinschaft Jerichow (EZG), die im Jahre 1999 von dem inzwischen verstorbenen evangelischen Pfarrer René Leudesdorff gegründet wurde. Der Dienst am Sitz der kleinen Gemeinschaft ist aber nur ein Teil des Angebotes. Für viele Gemeinden in mehreren östlichen Landeskirchen – Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM), Berlin-Brandenburg (EKBO) und im Ostsprengel der Nordkirche – vermittelt die EZG Pfarrdienste von zum Teil mehreren Wochen durch mit ihr verbundene pensionierte Pfarrerinnen und Pfarrer. Eine passende kostenfreie Unterkunft für ein bis zwei Personen ist Voraussetzung. Der Rest ist Ehrenamt. Die Vereinigung nennt sich „Zehntgemeinschaft“, weil man im übertragenen Sinne den Zehnten seiner Zeit für andere einsetzt. „Wir geben unseren Zehnten in Form von Zeit“ lautet das Motto frei nach Maleachi 3,10.
Die EZG besteht aus knapp 60 pensionierten Pfarrerinnen und Pfarrern, von denen pro Jahr etwa 40 in ostdeutschen Kirchengemeinden Vertretung machen oder den Präsenzdienst in Jerichow übernehmen, wo die Gemeinschaft ihren Sitz hat. Die ostdeutschen Geschwister müssen oft ein Dutzend Gemeinden versorgen. Sie sind so dünn besetzt, dass es kaum möglich ist, untereinander Vertretungen in der Urlaubszeit zu organisieren, und da hilft die EZG aus.
Mit großem Interesse nehme ich die Bemühungen und Mühen unserer Geschwister in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands wahr, da gibt es viel Potenzial, aber auch frische Ideen. Ein Großereignis etwa war in diesem Jahr am Johannistag, dem 24. Juni, das Tauffest des Kirchenkreises Stendal in Arneburg an der Elbe: Etwa 500 Menschen kamen da zusammen, rund 40 von ihnen wurden an der Elbe oder auch in der Elbe getauft. Das hat nicht nur bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Eine gastfreundliche und offene Gemeinde
In Jerichow gibt es eine Pfarrerin, die ich als engagierte junge Frau erlebe. Sie ist viel unterwegs, um ihre Gemeindeglieder zu erreichen. Ihre Besuchstage in den einzelnen Dörfern kündigt sie im Gemeindebrief oder über andere Kanäle an. Gerade im Sommer gibt es aber auch lokale Veranstaltungen: Kirchenkonzerte, Gemeindefest, Filmabende – und jeden Sonntag Gottesdienst in der Klosterkirche Jerichow.
Überhaupt erlebe ich dort viele liebenswerte und engagierte Menschen, die sich umeinander kümmern und offen und gastfreundlich sind. Viele Menschen in Jerichow geben ihren Zehnten an Zeit. Nicht nur unsereiner.
• Infos: Der Einsatz ist grundsätzlich ehrenamtlich bei freiem Quartier, aber eigener Verpflegung. Nähere Informationen gibt der aktuelle Leiter der Zehntgemeinschaft, Hermann de Boer, Telefon (0 50 41) 8 02 74 17, E-Mail: Hermann.de.Boer@t-online.de; Internet: www.ezgj.de.