BERLIN – Amerikaner, Briten und Franzosen kamen als Befreier, die Russen als Vergewaltiger: So lautet das gängige Klischee. Dass neben der Roten Armee auch französische, amerikanische und britische Soldaten am Kriegsende und während der Besatzungszeit Frauen in Deutschland sexuell misshandelten, zeigt die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt in ihrem neuen Buch „Als die Soldaten kamen“.
Gebhardt hat Hochrechnungen für alle Besatzungszonen vorgelegt, die unter anderem auf der Zahl der Besatzungskinder beruhen. „Meine Zahlen basieren auf vorsichtigen Schätzungen, sie sind nicht in Stein gemeißelt“, sagt die Historikerin. Danach wurden rund 860 000 Frauen auf dem Gebiet Deutschlands zwischen 1944 und 1955 von Soldaten der Alliierten vergewaltigt, davon 190 000 durch US-Soldaten. Bislang hieß es, dass allein zwischen einer und zwei Millionen Frauen und Mäd-chen von Rotarmisten vergewaltigt worden seien. Gebhardt geht hier von rund 500 000 Opfern aus.
Betroffene Frauen waren in einer schwierigen Situation. Sie schwiegen aus Scham oder Angst. Nach Kriegsende wollte die Gesellschaft schnell wieder zu einem bürgerlichen Familienideal zurückkehren. Da passte die Erinnerung an die Übergriffe nicht. Gleichzeitig schwiegen oft auch die Männer darüber, was sie im Krieg erlebt und mitunter auch getan hatten. Schließlich gehörten Vergewaltigungen auch zur deutschen Kriegsführung. Zudem fürchteten die Frauen den Verdacht, dass sie sich freiwillig mit fremden Soldaten eingelassen hätten.
Bis in Deutschland seriöse Untersuchungen zu dem Thema erschienen, hat es Jahrzehnte gedauert. Die DDR war ihren Verbündeten im Osten gegenüber loyal, ebenso die Bundesrepublik den westlichen Alliierten. Wenn das Thema im Westen öffentlich erörtert wurde, dann mit Blick auf „die Russen", die Feinde im Kalten Krieg. Später stand die Aufklärung der deutschen Verbrechen im Mittelpunkt. Hinweise auf Schandtaten der Alliierten galten als Relativierung der eigenen Schuld. Dem Massenpublikum wurde das Thema erst Anfang der 2000er Jahre bewusst, mit dem autobiographi-schen Buch jener Frau, die als „Anonyma“ die sowjetische Besetzung Berlins schilderte.
Gebhardt macht eindrucksvoll deutlich, wie die Vergewaltigungen bis in die Gegenwart nachwirken – unter anderem am Schicksal von Elfriede Seltenheim, die erst spät darüber sprechen konnte, was ihr als Mädchen angetan wurde: Sie ist 14 Jahre, als die Russen nach Ostbrandenburg kommen: Vier Wochen lang wird das Mädchen von Russen vergewaltigt. Immer wieder. „Da ist etwas gestorben“, erzählt sie der Autorin. „Ich habe immer gesagt, ich habe das Lachen schnell verlernt. Und viel später habe ich das Weinen verlernt. Ohne Lachen kann man leben, aber ohne Weinen kann man eigentlich nicht leben.“