Einsamkeit wird zunehmend zu einem Problem in der heutigen Gesellschaft. In Großbritannien hat Premierministerin Theresa May deswegen sogar eine Ministerin gegen Einsamkeit ernannt. Auch in Deutschland haben Politiker wie der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach das Thema Einsamkeit als Problem ausgemacht. Im Interview mit Christoph Arens sieht die Bundesvorsitzende der Konferenz Evangelische Telefonseelsorge, Ruth Belzner, durchaus Handlungsbedarf der Politik.
Frau Belzner, ist Einsamkeit in unserer Gesellschaft wirklich ein so gravierendes Problem?
Ich habe natürlich keinen Überblick über die ganze Gesellschaft. Aber wenn ich von den Anrufen bei der Telefonseelsorge ausgehe, dann würde ich schon sagen: Das ist ein riesiges und stark wachsendes Problem. Etwa 67 Prozent unserer Gespräche führen wir mit Menschen, die alleine leben. Und in 16 Prozent aller Gespräche wird Einsamkeit direkt thematisiert. Manche Klienten rufen jeden Tag bei uns an, damit sie wenigstens einmal am Tag einen Gesprächspartner haben, der ihnen das Gefühl von Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringt.
Warum wächst das Problem?
Es gibt verschiedene Ursachen. Einmal, weil unsere Lebensläufe instabiler werden. Beruflich müssen wir flexibler sein, Eltern und Kinder leben immer öfter an verschiedenen Orten. Und Familien brechen vermehrt auseinander. Dazu kommt, dass wir im täglichen Leben immer weniger zu direkten Kontakten mit anderen Menschen gezwungen werden. Die Fahrkarte kaufen wir am Automaten, Kleidung bestellen wir im Internet….
Wie würden Sie überhaupt Einsamkeit definieren?
Alleinsein und Einsamkeit sind nicht dasselbe. Man kann allein sein, ohne sich einsam zu fühlen. Und es gibt Personen, die fühlen sich inmitten von Familie und Freunden einsam. Menschen, die einsam sind, haben das Gefühl, dass sie für ihre Mitmenschen keine Bedeutung haben, nicht anerkannt, beachtet und gebraucht werden. Einsamkeitsgefühle können so schlimm sein wie heftige Schmerzen. Durch Einsamkeit wächst die Gefahr, an Alzheimer, Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck, Depressionen oder gar Krebs zu erkranken. Ältere Menschen sind besonders betroffen, weil sie erleben, dass Partner, Freunde und Bekannte sterben, während die Kinder und deren Familien weit weg wohnen und mit ihrem eigenen Lebensumfeld stark beschäftigt sind.
Was halten Sie davon, dass die Politik sich des Themas annehmen will? Braucht Deutschland ebenfalls ein Einsamkeitsministerium?
Es ist natürlich nicht Aufgabe des Staates, die Pflege sozialer Beziehungen des einzelnen Bürgers zu normieren oder zu beeinflussen. Einsame brauchen auch keine staatliche Nachhilfe oder Ermahnungen zum richtigen Handeln. Und auch keine staatliche Bespaßung. Richtig finde ich aber, dass die Politik Strukturen schaffen kann, die Einsamkeit verhindern oder vermindern.
Welche Strukturen wären das konkret?
Es geht etwa um die Gestaltung von Lebensräumen in Städten und Dörfern. Gibt es genügend Räume, wo Menschen sich begegnen können? Gibt es Mitgestaltungsmöglichkeiten im privaten Umfeld? Gefragt sind da vor allem die Akteure im direkten Lebensumfeld – also die Kommunalpolitik, die Vereine, die Kirchen. Gute Erfahrungen gibt es etwa mit Besuchsdiensten – wobei man bedenken muss, dass manche Menschen sich schwertun, zu Empfängern von Wohltaten zu werden. Besser wäre es, sinnvolle Betätigungs- und Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen.
Aber schafft nicht gerade Politik Bedingungen, die zu verstärkter Einsamkeit führen?
Natürlich haben Familienpolitik, Arbeitsrecht oder die Gestaltung der Pflege Auswirkungen darauf, ob Menschen ihr soziales Leben gut gestalten können. Auch der Gesetzgeber ist verantwortlich dafür, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft wachsen kann. Es gibt da viele Hebel. Schwierig finde ich deshalb, den Kampf gegen Einsamkeit einem einzelnen Ministerium zu übertragen.
Wie bewerten Sie die Rolle des Internets?
Das ist eine zweischneidige Sache. Einerseits kann das Netz etwa über WhatsApp oder Skype wunderbar Kontakte herstellen – selbst über Kontinente hinweg. Auch viele ältere Menschen haben da mittlerweile ihre Hemmungen abgelegt. Andererseits trägt das Internet natürlich auch dazu bei, dass Kontakte in den virtuellen Raum verlagert werden. Das Beste gegen Einsamkeit sind aber immer noch ganz reale Begegnungen von Mensch zu Mensch.
Was kann denn jeder Einzelne gegen Einsamkeit tun?
Wichtig ist die Erwartungshaltung an mich und die anderen. Wenn ich erwarte, dass sich andere für mich interessieren, und ich mich gleichzeitig nicht wirklich für die anderen interessiere, werde ich kaum meiner Einsamkeit entkommen. Und dazu brauche ich natürlich die Gelegenheiten, mit anderen in Kontakt zu kommen. Ich muss mich also in Situationen begeben, in denen ich andere treffe – etwa Interessengemeinschaften, kirchliche und soziale Organisationen, Vereine. Und für Menschen, die nicht mehr sehr mobil sind, sind die aufsuchenden Angebote wie Besuchsdienste sicher eine gute Möglichkeit, Kontakte zu pflegen. Und wenn sie deutlich machen, dass sie sich wirklich für die Person, die zu ihnen kommt, interessieren, sind sie nicht einfach Empfänger von Fürsorge, sondern haben auch etwas Wertvolles zu geben.
