„Regiolokale Kirchenentwicklung“ ist ein „Kunstwort“. „Erfunden“ hat es der Greifswalder praktische Theologe und Leiter des dort ansässigen Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG), Michael Herbst. Zusammen mit dem ehemaligen Leiter des Zentrums für Mission in der Region (ZMiR) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hans-Hermann Pompe, wurde es ins Spiel gebracht.
Im Grunde führt es konsequent fort, was beide Einrichtungen im letzten Jahrzehnt über kirchliche Regionalentwicklung gedacht, erforscht und entwickelt haben. Es bietet aber in doppelter Hinsicht mehr Klarheit: Denn es geht eigentlich nicht um die Entwicklung von Regionen, sondern um die Entwicklung von Gemeinde und Kirche, das aber im Zusammenspiel von lokalen und regionalen Perspektiven.
Worum geht es? Regiolokale Kirchenentwicklung (RKE) bringt mehrere Blickwinkel zueinander:
– die Auftragsorientierung von Gemeinde und Kirche,
– Vernetzung unterschiedlicher lokaler Akteure und
– Kooperation als wesentliche Handlungsform innerhalb von Prozessen regiolokaler Kirchenentwicklung.
RKE umfasst damit klassische Regionalentwicklungsprozesse, deutet sie aber als auftragsorientierte Kirchenentwicklungsprozesse auf lokal und regional vernetzter Ebene und ist ein hilfreiches Instrument für städtische und vor allem ländliche Räume.
Damit ist regiolokale Kirchenentwicklung nicht zuerst ein Handlungskonzept (weil konkrete Entwicklungsprozesse je nach Herausforderung und Kontext sehr unterschiedlich ausfallen dürften), sondern eher ein Wahrnehmungskonzept. Es achtet deshalb auf
– die grundlegenden Voraussetzungen regiolokaler Kirchenentwicklung,
– die Hauptformen der Kooperation und
– die zu erwartenden Konsequenzen.
Vier grundlegende Voraussetzungen
Kooperationen innerhalb einer regiolokalen Kirchenentwicklung erscheinen nicht einfach wie von selbst und auch nicht auf Kommando, wenn sie denn nachhaltig stabil werden sollen. Sie brauchen vielmehr eine spezifische Atmosphäre, die auf einem vierfachen Konsens der Beteiligten beruht. Diesen Konsens herzustellen, ist bereits der Anfang regiolokaler Kirchenentwicklung.
1. Regiolokale Kirchenentwicklung vollzieht sich in einem mehrdimensionalen Gestaltungsraum. Dieser entsteht, wenn lokale Akteure sich miteinander vernetzen und kooperieren. Letztlich sind alle Akteure innerhalb der RKE lokal – seien es Ortsgemeinden, Leuchtturmkirchen, Hauskreise, neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens wie Fresh-X-Initiativen und anderes mehr.
Das bedeutet auch, dass RKE nicht notwendigerweise an definierte (auch kirchliche Regionen) gebunden ist, sondern sie kann sie überschreiten und verändern. Diese Mehrdimensionalität erlaubt es zum Beispiel, diesen Raum entschieden auch als geistlichen Raum zu betrachten, der durch das bestimmt wird, was an spirituellem Erleben oder geistlicher Arbeit in ihm geschieht. Wie auch immer: Diese Räume sind im besten Fall deckungsgleich mit lebendigen Sozialräumen.
Hier liegt eine bisher leicht angedachte, aber noch nicht in der praktischen Tiefe ausgelotete Schnittstelle zur Quartiersentwicklung (wie sie das Institut für Kirche und Gesellschaft unterstützt) – weil der Fokus kirchlichen Handelns eben nicht Nabelbeschau sein kann, sondern konkrete Menschen in konkreten Sozialräumen meint. Das hat auch mit dem zweiten wichtigen Konsens zu tun.
2. Gemeinsames Ziel regiolokaler Kirchenentwicklung ist die Kommunikation des Evangeliums unter möglichst vielen Menschen. Alle anderen Einzelziele ordnen sich dem ein, zu oder unter. Das wird unterstützt durch den dritten Konsens:
3. Strukturen dienen diesem Ziel und schränken es nicht ein. Sie sind nicht sakrosankt und kein Selbstzweck und wenn es notwendig ist, müssen und können sie weiterentwickelt, abgebaut oder umgebaut werden.
4. Ein Klima des Vertrauens, eine Kultur der Kooperation mit Bereitschaft zur Unterstützung der anderen in der Region, wird gewollt, aktiv gefördert und permanent weiterentwickelt. Ohne wechselseitig wachsendes Vertrauen wären letztlich alle Veränderungen auf Sand gebaut.
Wenn wir nun auf die Kooperation als Modus regiolokaler Kirchenentwicklung schauen, können wir vier ausgeprägte Hauptformen entdecken. Dabei verstehe ich Kooperation in weitem Sinne. Diese Formen sind Zusammenarbeit, Profilbildung, Ergänzung und Solidarität. Alle Formen haben ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche.
Vier Hauptformen der Kooperation
1. Zusammenarbeit: Das meint die klassische Kooperation im engen Sinn. Gemeinsame Absprachen, gemeinsame Projekte, gemeinsame Gruppen in der Region. Die Stärke der Zusammenarbeit liegt darin, dass sie den Mehrwert für das Ganze im Blick hat. Ihre Schwäche kann in einem blassen Nebeneinander liegen.
2. Profilierung: Eine starke Region hat starke lokale Akteure. Profil zu entwickeln, zielt auf das Besondere einer Gemeinde, eines funktionalen Dienstes, einer Leuchtturmkirche, einer Kleingruppe: ihre erkennbaren Identitäten, ihre Ausstrahlungen und Stärken. Profilierung ist für Gemeinden gleichzeitig auch der Abschied vom parochialen Vollprogramm, an dem wir sonst irgendwann ersticken würden. Die Stärke der Profilierung liegt in Attraktivität und Ausstrahlung, ihre Schwäche in der Versuchung, zum arroganten Solisten zu werden.
3. Ergänzung: Das benennt, was eine einzelne Gemeinde oder ein Dienst oder ein Team gut kann und was sie weniger gut kann, um wechselseitig ein freiwilliges Geben und Nehmen zum Vorteil aller zu entwickeln. Ihre Stärke ist Gabenorientierung, ihre Schwäche der Hang zur Ausbeutung.
4. Solidarität: Nach 1. Korinther, Kapitel 12, bindet sie die einzelnen Glieder aneinander, im gegenseitigen Freud und Leid, in Unterstützung, Lastenausgleich, Mittragen, Vertretung, Fürbitte. Solidarität ist zugleich der Abschied von der protestantischen Form der Anerkennung: dem Neid. Ihre Stärke ist die gelebte Geschwisterlichkeit, ihre Schwäche können Konfliktscheu und Helfersyndrom sein.
Zwei dieser Formen haben eher mit Haltung zu tun (Profil und Solidarität), zwei eher mit Handlung (Zusammenarbeit und Ergänzung). Alle vier haben zwar jeweils für sich Sinn und Zweck, aber nur zusammen ergeben sie ein stimmiges Bild, schützen sich gegenseitig vor ihren jeweiligen Fehlformen, ermöglichen ein wirksames kooperatives Miteinander in der Region und tragen dazu bei, den Samen des Evangeliums weit und kräftig zu streuen.
Zu erwartende Konsequenzen
Für einzelne Gemeinden, funktionale Dienste, Mitarbeitendenteams, Kleingruppen, Dienstgemeinschaften und andere mehr lässt sich dieses kooperative Miteinander zu einigen Konsequenzen bündeln:
– Wachsende Zusammenarbeit statt stagnierender Isolation. Wir tun so viel gemeinsam wie möglich, wir machen so viel allein wie nötig. Zusammenarbeit wird zur Regel, Alleingang zur Ausnahme.
– Auftragsorientierung statt Bestandswahrung. Wir denken konsequent von Gott und von den Menschen her. Von Gott her: Was hat er für diese Region und ihre Orte vor? Und von den Menschen der Region her: Was brauchen sie? – Beides zusammengedacht und zusammengebetet kann eine regionale Vision entstehen lassen.
Nehmen wir dann noch die in der Region vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen von Einzelnen, Gruppen oder Gemeinden hinzu, haben wir die Grundlage, wirkungsvolle Projekte innerhalb der regiolokalen Kirchenentwicklung zu planen und umzusetzen.
– Vertrauen aktiv gestalten statt abwartend reagieren. Wir investieren in das Vertrauen untereinander. Wir legen einen Schatz an gemeinsamen Erfahrungen an. Wir möchten gemeinsam wieder spüren können: Wir handeln, wir reagieren nicht nur.
– Gegenseitige Ergänzung als Geschenk entdecken. „Gottes Gaben sind Gottes Berufungen“ (Wort des 1976 verstorbenen früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann). Jede Ergänzung ist zugleich Entlastung in überfordernden Situationen.
– Zeit nehmen statt schnell sein. Die Früchte der Kooperation wachsen, aber sie wachsen langsam. Sorgfalt, Geduld und langer Atem sind wichtiger als schneller Aktionismus.
– Weichen Faktoren den Vorzug vor den harten geben. Sie bestimmen in hohem Maß die Motivation aller Mitarbeitenden und können von Anfang an in Veränderungsprozesse eingespielt werden.
Was regiolokale Kirchenentwicklung auslöst, ist am Ende eine Veränderung einer bisher noch recht ordentlichen Landkarte. Diese wird sicher unübersichtlicher, auch ein klein wenig unordentlicher und unvorhersehbarer und sehr viel bunter.
In der Tat wird ein vernetztes Nebeneinander und Miteinander verschiedener Mitspieler in der regiolokalen Kirche zu erwarten sein: von der klassischen ländlichen oder städtischen Parochie über kirchliche Orte wie im Krankenhaus oder der Schule und über verschiedene Fresh-X-Angebote in Cafés, Bürotürmen, Plattenbauten sowie über Leuchtturmkirchen und Gebetshäuser bis hin zu Hausgemeinden rund um eine Radwegekirche und kommunitären Angeboten auf Zeit. Und wahrscheinlich – weil der Heilige Geist auch die kreative Kraft Gottes ist – werden Formen kirchlichen Lebens entstehen, die wir heute noch gar nicht kennen. Und natürlich kann das Ganze auch ökumenisch angelegt werden – in einigen Diasporagegenden wird das möglicherweise gar nicht anders gehen.