„Jugend darf, ja muss kritisch sein“. Mit diesen Worten stellte sich Gerhard Thomas, ordinierter Theologe, vor der Redaktionsgruppe „Kirche, Welt, Jugend“ der Mecklenburgischen Kirchenzeitung vor, wenn es mal wieder einmal Ärger gab um aufmüpfige Texte. Hier war er in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren Chefredakteur. Gleichzeitig wollte er damit uns, die noch sehr jungen, ehrenamtlichen Mitglieder dieser Redaktionsgruppe, ermuntern, unseren kritischen Blick zu schärfen.
Und so verfassten wir für die Jugendseite nicht nur Beiträge, was wir uns in der Kirche anders wünschen, sondern auch zu gesellschaftlichen heißen Eisen: Was heißt Bewahrung der Schöpfung unter den Bedingungen der DDR? Und was ein christliches Friedenszeugnis angesichts von atomarer Aufrüstung und der Militarisierung der Gesellschaft? Was ist echte Solidarität neben der staatlich verordneten mit den Menschen in den damals noch „Dritte Welt“ genannten Ländern? Öfter kam daraufhin wie auch auf andere Beiträge der Einspruch der Zensur durch das Presseamt beim Ministerrat der DDR.
Gerhard Thomas: Kritische Stimme nach innen und außen
Doch Gerhard Thomas sah es als Aufgabe, die Möglichkeiten evangelischer Publizistik nach innen und nach außen als kritische Stimme auszureizen und erarbeitete so den Ruf der „Mecklenburgischen Kirchenzeitung“, auch ein Sprachrohr oppositioneller Stimmen zu sein. Die ehrenamtlichen Redaktionsgruppen wurden auch jenseits der konkreten Artikelplanungen zu Diskussionsräumen. So wurden in der Gruppe für die Frauenkolumne feministische Themen besprochen, in der Redaktionsgruppe für die Kinderecke „Peters Kirchenzeitung“ ging es auch um reformpädagogische Ansätze als Widerspruch zum DDR-Erziehungssystem. Zudem brachte der gebürtige Rostocker Gerhard Thomas eine ökumenische Weite in die Redaktionsarbeit ein: Vor der Übernahme der Chefredaktion in Schwerin 1977 war er für ein Jahr als Mitarbeiter im Stab des Lutherischen Weltbundes in Genf tätig.
Die dort geschlossenen Kontakte pflegte er weiter, so nahmen an den großen jährlichen Tagungen von Redaktion und ehrenamtlicher Mitarbeiterschaft öfter auch Gäste aus dem „kapitalistischen Ausland“ teil. Auch die kirchliche und gesellschaftliche Situation im ländlichen Raum waren ihm vertraut aus seiner Zeit als Gemeindepastor in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren in Retgendorf bei Neubrandenburg und Burg Stargard bei Schwerin, dort bereits als Redakteur der Mecklenburgischen Kirchenzeitung.
Pastor und Journalist aus Leidenschaft
Dies alles brachte ihm 1986 den Ruf nach Berlin ein, als Chefredakteur von „die Kirche“, dem evangelischen Wochenblatt für die fünf unierten ehemaligen preußischen Provinzialkirchen Berlin-Brandenburg, Kirchenprovinz Sachsen, Anhalt, Görlitz und Greifswald. Unter ihm wurde diese Zeitung zu einer wichtigen Stimme der Bürgerrechtsbewegung bis zur Friedlichen Revolution. Die Überzeugung, dass sowohl die Kirche als auch das DDR-System verändert werden muss und verändert werden kann, ließ ihn publizistisch auch für die Auflösung der Landeskirchen zu Gunsten einer gemeinsamen Evangelischen Kirche in der DDR streiten. Diese Überzeugung verleitete ihn auch ab 1978 zu unregelmäßigen Kontakten als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) Schulz zum Ministerium für Staatssicherheit, ohne seine Kirche darüber zu informieren. Sie beurlaubten ihn im Herbst 1992. Der Überprüfungsausschuss durch die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg behandelte seinen Fall und hob die Beurlaubung auf.
Unverkennbar ostdeutsches Profil
Bis zu seinem Ruhestand 1998 blieb Gerhard Thomas auch unter den veränderten kirchlichen und politischen Bedingungen ein Streiter für eine kritische und unabhängige evangelische Publizistik mit einem ostdeutschen Profil. Die vom Herausgeber der „Kirche“, dem damaligen Berliner Bischof Wolfgang Huber, angestoßene Kooperation mit der Kirchenzeitung der Partnerkirche Westfalen scheiterte auch daran. Doch ebenso scheiterte das Bestreben von Gerhard Thomas: Nach der Fusion der „Kirche“ mit dem Westberliner „Sonntagsblatt“ und der Potsdamer Kirchenzeitung wollte er aus den verbliebenen vier eigenständigen ostdeutschen evangelischen Kirchenzeitungen eine gemeinsame unter Leitung der Berliner Redaktion machen.
Was aber bis heute nachwirkt, ist sein Ideal von einer evangelischen, gegenüber kirchlicher und weltlicher „Obrigkeit“ angstfreien Publizistik, die sich gerade auch kontroversen Themen widmet und dem Diskurs in Kirche und Gesellschaft Raum und Stimme verschafft. Damit hat er etliche geprägt, die mit ihm zusammengearbeitet haben. Und es bleibt die Erinnerung an die Freude, mit der seine Frau Rotraud und er Gastfreundschaft übten und so Menschen zusammenbrachten. Im Ruhestand waren dann beide nach Schwerin in die Nähe ihres Sohnes, dem Pastor Roger Thomas, zurückgekehrt. Nun ist Gerhard Thomas am 6. Juni gestorben.
Tilman Baier ist Herausgeber von „Evangelische Zeitung / Mecklenburgische & Pommersche Kirchenzeitung“ und war von 1993 bis 2023 deren Chefredakteur.