Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat nach dem überstürzten Rückzug aus Afghanistan für künftige Bundeswehreinsätze im Ausland vor zu großen Zielen gewarnt. „Man muss sehr, sehr vorsichtig sein, von außen zu versuchen, den Weg eines Landes beeinflussen zu wollen“, sagte Merkel am Donnerstag im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags auf die Frage, was für sie die wesentliche Lehre aus dem Afghanistan-Einsatz sei. „Das geht weniger, als wir uns wünschen“, sagte Merkel.
Sie halte es auch im Rückblick gesehen für richtig, die USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 unterstützt zu haben, weil die begründete Hoffnung bestanden habe, dass keine terroristischen Angriffe mehr von Afghanistan ausgehen, sagte die Altkanzlerin. „Bei allen anderen Zielen“ müsse man aber feststellen, gescheitert zu sein, sagte Merkel in Berlin und verwies auf den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen sowie die Etablierung von Demokratie und Menschenrechten, insbesondere Frauenrechten.
Merkel war als voraussichtlich letzte Zeugin in den Untersuchungsausschuss geladen worden. Der im Juli 2022 eingesetzte Ausschuss soll die Umstände der militärischen Evakuierungsaktion aus Kabul im August 2021 aufklären. Die Evakuierung war nötig geworden, nachdem die radikalislamischen Taliban nach dem Abzug der internationalen Truppen kurz zuvor überraschend schnell die Hauptstadt zurückerobert hatten.
In ihrem Eingangsstatement schilderte Merkel teils aufs Datum genau, wann in welcher Konstellation über die Situation in Afghanistan und die Ortskräfte gesprochen wurde. „So systematisch wie Sie hat hier niemand eingeführt“, entgegnete der Ausschussvorsitzende Ralf Stegner (SPD). Als erster Abgeordneter befragte allein Stegner Merkel rund anderthalb Stunden. Mit einer weiteren Befragung bis in den späteren Abend war für Donnerstag gerechnet worden. Jede Fraktion hatte dabei ihrer Größe entsprechend Zeit, der Bundeskanzlerin auf den Zahn zu fühlen.
Im Zentrum der Ausschussarbeit steht auch die Frage, ob durch eine Fehleinschätzung der Sicherheitslage afghanische Mitarbeiter deutscher Organisationen gefährdet wurden und früher Vorbereitungen für deren Schutz oder Ausreise hätten getroffen werden müssen. Viele Ortskräfte von Bundeswehr, Polizei und Entwicklungsorganisationen mussten wegen des überstürzten Abzugs zurückbleiben.
Merkel sprach dabei von an mehreren Stellen von einem Dilemma. Die Forderung der damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die Zahl der Ortskräfte von Bundeswehr und Polizei auszuweiten, die nach Deutschland kommen können, habe sie unterstützt. Zurückhaltender sei sie gewesen bei Ortskräften aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Hätte man zu vielen die Ausreise ermöglicht, hätte es als Signal verstanden werden können, Deutschland vertraue nicht mehr darauf, dass es eine gute Entwicklung geben könnte, sagte Merkel.
Die Bundesregierung debattierte im Frühsommer 2021 zudem über beschleunigte Visa-Verfahren für Ortskräfte, was insbesondere im Innenministerium unter Führung von Horst Seehofer (CSU) auf Vorbehalte stieß. Merkel sagte, das Innenministerium habe die Aufgabe gehabt, dafür zu sorgen, „dass wir uns nicht Kräfte ins Land holen, die für terroristische Anschläge verantwortlich sind“. Das habe sie nicht zur Seite wischen können. „Dieses Dilemma habe ich schon sehr deutlich gespürt“, sagte die ehemalige Kanzlerin. An anderer Stelle räumte sie aber auch ein, dass die Entscheidung gegen beschleunigte Verfahren auch mit der Erfahrung aus dem Jahr 2015, als viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, zusammengehangen habe.
Vor Merkel hatte ihr damaliger Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) im Untersuchungsausschuss ausgesagt. Auch er rechtfertigte die damaligen Entscheidungen. Es sei anfangs auch seine feste Überzeugung gewesen, dass es möglich sein müsse, reguläre Visa-Verfahren durchzuführen, sagte Braun. Braun zufolge hatte sich die damalige Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer ab April 2021 dafür eingesetzt, die Ausreisemöglichkeiten für Ortskräfte der Bundeswehr auszuweiten.