Osnabrück (epd). Als Kind und Jugendlicher wurde Max Ciolek (61) über acht Jahre von einem katholischen Priester missbraucht, der ein enger Freund der Familie war. Jürgen S. hat mit der siebenköpfigen Familie in Dortmund Geburtstage und Weihnachten gefeiert – und sich an ihrem jüngsten Sohn vergangen: im Kinderzimmer, auf Ausflügen, in der Priesterwohnung. Erst mit Mitte 30 sei ihm selbst bewusstgeworden, dass das, was er erlebt hatte, als schwerer sexueller Missbrauch einzustufen ist, erzählt Ciolek im Gespräch mit dem Evangelischen
Pressedienst (epd).
Vor anderthalb Jahren hat der heute in Osnabrück lebende Oratoriensänger und Grafik-Designer diesen Missbrauch öffentlich gemacht. Die Taten sind längst verjährt. Der Täter nahm sich das Leben, kurz nachdem Ciolek ihn beim Bistum Paderborn angezeigt hatte. Seit Juni 2020 gehört Ciolek dem Betroffenenrat beim Unabhängigen
Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, an. Die Kirche kritisiert er für ihren Umgang mit den Missbrauchsfällen.
epd: Herr Ciolek, wie gehen Sie heute damit um, dass Sie als Kind von einem Priester missbraucht wurden?
Ciolek: Ich gehe mittlerweile sehr aktiv damit um. Ich bin durch viel Zeit, viele gute Begegnungen, durch Therapie und viel Arbeit an mir selbst heute so stark, dass ich etwas tun kann, um die Situation für die Kinder heute zu verbessern. Ich habe ein Jahr lang in dem präventiven Theaterstück «Mein Körper gehört mir» gespielt. Die
Theaterpädagogische Werkstatt in Osnabrück geht damit bundesweit in die Grundschulen. Ich habe jetzt die Kraft, etwas Gutes für die Kinder zu tun.
epd: Sie sind auch eines von 18 Mitgliedern im Betroffenenrat der Bundesregierung. Was kann dieser Beirat leisten?
Ciolek: Der Beirat gibt Stellungnahmen ab zu Gesetzesinitiativen. Wir machen aufmerksam auf Missstände, etwa darauf, dass Richter und Erzieherinnen nicht gut genug ausgebildet sind. Zudem ist Öffentlichkeitsarbeit wichtig. Wir müssen es als Gesellschaft schaffen, das Thema aus der Tabu-Ecke zu holen. Wir müssen anfangen, in einer sehr sachlichen und achtsamen Art darüber zu sprechen. Es ist allgegenwärtig. In jeder Schulklasse sitzen ein bis zwei Kinder, die davon betroffen sind. Wahrscheinlich kennt jeder von uns so ein Kind.
Oder vielleicht kennen wir sogar einen Täter. Es wird aber nicht darüber gesprochen. Das spielt den Tätern in die Karten. Wir wollen versuchen, den Menschen Handwerkszeug dafür an die Hand zu geben, dass sie lernen: Wie kann ich mit einem Kind darüber ins Gespräch gehen? Was macht man, wenn man Missbrauch vermutet? Wir Erwachsenen müssen die Kinder davor beschützen. Alleine können sie es nicht.
epd: Dass Sie über Missbrauch so offen reden können, war nicht immer so. Können Sie beschreiben, wie sie die Ereignisse verarbeitet haben?
Ciolek: Richtig realisiert habe ich es erst Mitte 30. Vorher habe ich immer gedacht, da ist etwas passiert, das ist ein bisschen komisch, aber das war nicht schlimm. Meine damalige Frau, ich habe schon mit 20 Jahren geheiratet, hat mir damals schon gesagt, ich müsste das anzeigen. Aber ich habe immer abgewiegelt. Dann habe ich eine Frau getroffen, die von ihrem Vater missbraucht worden war. Da habe ich gemerkt: Oh, das kenne ich doch.
Alle meine Schwierigkeiten, die ich in meinem Leben hatte, sind mir dann eingefallen. Und ich dachte, das könnte eine Erklärung sein. Dann habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen, Bücher zu lesen, eine Therapie zu machen. Das ist aber so in Wellen verlaufen. Es gab immer wieder Zeiten, wo ich das Thema ganz in Ruhe gelassen habe. Schließlich habe ich 1997 den Täter damit konfrontiert und Anzeige erstattet beim Bistum Paderborn. Der letzte große Schritt war dann, an die Öffentlichkeit zu gehen und anderen zu helfen.
epd: Wie stehen Sie heute zur katholischen Kirche?
Ciolek: Ende der 1990er Jahre bin ich aus der Kirche ausgetreten. Ich komme aus einem total katholischen Elternhaus. Ich war Messdiener, Pfadfinder, Lektor, habe im Kinderchor, später im Kirchenchor gesungen. Kirche war mein soziales Leben. Da habe ich mich anerkannt und geborgen gefühlt. Das habe ich sehr genossen. Später war ich zwölf Jahre Kirchenmusiker. Während dieser Zeit habe ich gemerkt, wie festgefahren die Strukturen waren und wie schwierig es war, Dinge zum Guten zu ändern. Das hat zu immer mehr Frust geführt, so dass ich 1992 gesagt habe, ich muss hier weg, ich kann hier nicht mehr arbeiten, ich werde hier krank. Zu der Zeit war mir der Missbrauch noch gar nicht bewusst.
epd: Und das hatte mit dem Missbrauch gar nichts zu tun?
Ciolek: Nein. Der Missbrauch fand aus meiner Sicht eindeutig im familiären Umfeld statt. Der Täter war zwar ein Priester, aber er war nicht die Institution Kirche. Der Mann stammte wie meine Eltern aus Oberschlesien, und die Oberschlesier hocken immer gerne zusammen. Er hatte dann wunderbar Gelegenheit, mich einzuladen, mit mir zu spielen, mit mir Ausflüge zu machen, mich irgendwann als Messdiener in seine Gemeinde zu holen. Wenn die Messe morgens früh war, hat er gesagt: «Da hole ich dich schon am Samstag, dann übernachtest du bei mir.» So fing das an.
Dadurch, dass in unserem katholischen Elternhaus überhaupt nicht über Sexualität gesprochen wurde, das war ein absolutes Tabuthema, hatte ich überhaupt kein Gespür dafür, für Ja- oder Nein-Gefühle, wie das heute so schön heißt. Da war ein Erwachsener, und dann war der auch noch Priester, der hatte natürlich Recht. Er hat gesagt, ich sollte das niemandem erzählen, meine Mutter würde nur krank davon, und ich bräuchte das auch nicht zu beichten.
epd: Wie beurteilen sie den Umgang der Kirche mit dem Thema Missbrauch?
Ciolek: Der institutionelle Schutz ist ihr immer noch wichtiger als Empathie mit den Opfern. Und das meine ich nicht nur im Bezug auf die katholische, sondern auch auf die evangelische Kirche. Immer noch wird viel zu viel verschwiegen, vertuscht, möglichst nicht an die Öffentlichkeit gegeben. Was uns auch im Betroffenenrat stört ist, dass jedes Bistum bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen sein eigenes Süppchen kocht. Es machen alle irgendwie etwas, weil sie den Druck der Öffentlichkeit spüren. Und es hat leider auch schon wieder richtig schlechte Beispiele gegeben.
In Trier haben sie schnell einen Betroffenenbeirat gegründet. In dem Auswahlgremium waren aber nur Kirchenvertreter und kein einziger Betroffener. In Berlin wird ein 600-seitiges Gutachten veröffentlicht, wovon 440 Seiten niemand lesen darf außer einer Kommission, in der fast nur Kirchenvertreter sitzen. Das geht einfach
nicht. Man hat den Eindruck, wenn sie irgendwie können, versuchen sie immer auf die Bremse zu treten.