Schwärze. Nichts als Schwärze. Nur wenn das Essen durch die kleine Luke der mehrfach gesicherten Tür geschoben wird, flammt für einen kurzen Moment ein Lichtstreif in die winzige Zelle. Sobald die Luke wieder geschlossen ist, frisst die Dunkelheit den zarten Hauch vom zuvor diffusen Licht.
Wie lange kann ein Mensch so etwas aushalten? Aushalten ohne verrückt zu werden, ohne zu zerbrechen? Eine Woche, einen Monat? Ein ganzes Jahr? Der Werler Heinz Dietrich Feldheim hat zwischen 1937 und 1938 vierzehn Monate in Dachau in Dunkelhaft verbracht. 400 Tage in völliger Isolation. Und alles „nur“, weil er an einem Flugblatt gegen Hitler mitgewirkt haben sollte: Verdacht der Vorbereitung des Hochverrats.
Über Jahre hinweg entstand eine gute Beziehung
Wenn ein Mensch eine solch körperlich wie gleichermaßen seelische Tortur überstehen will, dann braucht er etwas, an das er sich klammern kann. Im Fall von Heinz Dietrich Feldheim war das die Schauspielerin Marlene Dietrich.
„Ich glaube, Marlene hat mir das Leben gerettet. Ja, Marlene hat mein Leben gerettet. Ich hätte die Tortur über so eine lange Zeit niemals ausgehalten. Niemals.“ Mit diesen Worten hat der damals schon recht betagte Feldheim 1995 dem in Hamm geborenen Religionslehrer Hans-Jürgen Zacher seine unglaubliche Lebensgeschichte anvertraut, die dieser inzwischen in dem Buch „Marlenes Bilder – das Vermächtnis eines Häftlings“ niedergeschrieben hat.
Zacher hat sein Leben dem christlich-jüdischen Dialog gewidmet und gemeinsam mit seinen Schülern zahlreiche Preise und Auszeichnungen gewonnen. Immer wieder hat er sich in den letzten Jahren auf die Spuren von einst in Werl und Umgebung lebenden Juden gemacht und hat deren Lebensgeschichten aufgezeichnet. Dadurch ist auch der Kontakt zu Feldheim entstanden, der nach dem Krieg zunächst in England, später dann in München gelebt hat. Zacher: „Ich habe zwanzig Jahre lang mit mir gerungen, was ich mit der Geschichte von Heinz Dietrich Feldheim machen soll.“
Über Jahre hatte sich ein respektvolles Vertrauensverhältnis zwischen dem Lehrer und dem studierten Volkswirt und Mathematiker aufgebaut. Unzählige Briefe haben sich die beiden geschrieben. Zacher: „Es sind wohl weit über 100.“ Für Feldheim hatte der Kontakt zu jemand aus der alten Werler Heimat auch so etwas wie einen therapeutischen Effekt. Nach anfänglichem Zögern öffnete er sich in seinen Briefen immer mehr und gestattete Hans-Jürgen Zacher einen Blick in seine von KZ-Aufenthalten verletzte Seele.
„Die seelischen Folgen der Lagerhaft bleiben ein Leben lang“, heißt es etwa in einem Brief. Und weiter: „Am Tage meiner Heimkehr beherrschte mich das Gefühl, das nie erloschen ist, dass meine Mentalität sich seit meiner Verhaftung grundsätzlich geändert hat, dass ich nicht mehr in die menschliche Gesellschaft passe, dass ich ein Außenseiter bin.“
Dass Feldheim die Zeit im dunklen Bunker überlebt hat, und nach einem kurzen Gerichtsprozess sogar in die Freiheit entlassen wurde, bleibt ein Mysterium. Er hat vermutet, dass der ebenfalls aus Werl stammende Franz von Papen – 1932 Reichskanzler und unter Hitler von Januar 1933 bis Juli 1934 Vizekanzler – interveniert hat. Bis zu seinem Tod war Feldheim überzeugt, „dass ich während meiner vierzehn Monate im Dachauer Bunker nicht ermordet wurde, weil von Papen damals als Botschafter in Wien noch einen politischen Einfluss hatte“.
Bei den sporadischen, persönlichen Begegnungen in München oder Werl hat Zacher einen Menschen erlebt, dessen innere Zerrissenheit spürbar war und der unter der schweren Hypothek der Vergangenheit sichtbar litt. „Aus Verpflichtung gegenüber meinen Mithäftlingen in Buchenwald“ hat sich Feldheim nach seiner Freilassung aus dem Konzentrationslager freiwillig zur englischen Armee gemeldet. „Ich wollte mit dem Heer der Feinde gegen das Nazisystem kämpfen.“
Das alles hat er Hans-Jürgen Zacher berichtet. Die wohl entscheidende Begegnung fand 1993 im Werler Hotel Bartels statt. Da hat Feldheim etwas erzählt, das er bis zu diesem Zeitpunkt vermutlich niemandem sonst offenbart hat. Seine Verehrung von Marlene Dietrich und wie ihm das geholfen hat, den Kerker zu überleben.
In Zachers Buch ist zu lesen, was Feldheim vor über 25 Jahren gesagt hat: „Ja, Marlene. Als ich im Dunkelbunker in Einzelhaft war, ging es mir oft sehr schlecht. Wenig zu essen, nicht zu wissen, ob es Tag ist oder Nacht. Immer wieder die fünf Schritte durch die Zelle. Keine Abwechslung. Und dann die nie endenden Gestapo-Verhöre. Ich war oft sehr verzweifelt, glaubte, ich würde es nicht mehr aushalten und hatte dann wieder die Hoffnung, doch noch eines Tages herauszukommen. Und ich stellte mir vor, was ich tun würde, wenn dieser Tag kommt. Ich wollte in die Natur rauslaufen, genießen. Tun, was ich schon immer gern getan habe: In den Bergen wandern und Skilaufen. Sonnenstrahlen einatmen. Und ich wollte einmal Marlene Dietrich sehen.“ Mantrahaft hat sich Feldheim diesen Wunsch in den dunkelsten Stunden seines Lebens immer wieder in Erinnerung gerufen.
Nach dem Krieg schickt Feldheim dem Weltstar jedes Jahr am 27. Dezember – ihr Geburtstag – rote Rosen, schreibt ihr und besucht Konzerte von ihr, eines sogar in Paris. „Und das Unfassbare geschieht“, so Zacher. „Marlene Dietrich antwortet ihm persönlich, nimmt Anteil an seinem Schicksal und schickt persönliche Zeilen auf der Rückseite eines signierten Fotos.“
„Sie hat sich für meinen Brief bedankt“, hat Feldheim 1993 erzählt, „und gefragt, wie ich die furchtbare Zeit überstanden habe und ob ich noch krank sei. Das mache ihr Sorgen. Stellen Sie sich vor, Marlene Dietrich, dieser berühmte Star, die ganze Welt lag ihr zu Füßen; und sie schreibt mir, sie mache sich Sorgen, Sorgen um mich.“
Hans-Jürgen Zacher berichtet, wie gerührt Feldheim bei dieser Schilderung war, wie er sich verstohlen mit dem Ärmel über die Augen gewischt hat, bevor er weitererzählte: „Eine wunderbare Frau. Und sie schickte mir noch drei Autogramme. Die Autogramme habe ich immer bei mir, die sind mir sehr, sehr wichtig. Trage sie in meiner Handtasche immer bei mir. Nachts, wenn ich schlafe, sind sie auf meiner Nachtkommode.“
Diese intensive Schilderung begleitet Zacher noch sehr lange. Aber dass das mehr als die Erzählung eines alten Mannes war; dass das vielmehr ein Auftrag war, diese Geschichte weiterzuerzählen, das erfährt er erst, als Feldheim 1997 stirbt. In seinem Testament vermacht er die Briefe und Autogrammkarten und weitere Papiere und Dokumente aus seinem Leben an Zacher: „Diese Papiere und Dokumente haben für mich einen sehr großen Wert. Es beschäftigt mich, dass ein kleiner Teil meiner Erinnerungen an jemanden geht, der ihn schätzt, für den er nicht wertlos ist“, hat Feldheim zu Lebzeiten in sein Testament geschrieben.
Mit dem lesenswerten Buch „Marlenes Bilder“ hat Zacher diesem letzten Wunsch von Heinz Dietrich Feldheim entsprochen.