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Die Familie als Spiegel des Systems

„Wir müssen alle für die Geschenke der Götter leiden, entsetzlich leiden . . .“, hat der irische Autor Oscar Wilde festgestellt. Iman (der Name bedeutet „Glaube“) empfindet eine Beförderung wie ein Geschenk des Himmels. Der strenggläubige Iman ist zum Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran ernannt worden. Es ist das Jahr, in dem die kurdischstämmige Iranerin Jina Mahsa Amini von der Sittenpolizei festgenommen wird und während der Haft stirbt.

Die Folge sind 2022 die sogenannten Jina-Proteste im ganzen Land, die das Mullah-Regime blutig niederschlagen lässt. Iman ist nun Teil im Räderwerk des staatlichen Terrors. Er unterschreibt auf Anweisung der Staatsanwaltschaft ein Todesurteil wegen angeblicher Gotteslästerung, ohne die Akte des Falles überhaupt gelesen zu haben. Gewissensqualen sind der Preis für das Geschenk der Götter. Der Satz seiner Frau, „Arbeit ist Arbeit“, verschafft ihm psychisch keine Erleichterung.

Mohammad Rasoulofs Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ beginnt wie ein Thriller: mit Karzan Mahmoods düster-dramatischer Musik und Patronen, die auf einen Tisch fallen. Iman (Missagh Zareh) erhält eine Dienstwaffe. Der Vater zweier Töchter lebt als Untersuchungsrichter gefährlich. In seiner Familie, in der die Mutter Najmeh (Soheila Golestani) eine zentrale Rolle spielt, wird Imans neue Funktion tabuisiert. Die Töchter Rezvan (Mahsa Rostami) und Sana (Setareh Maleki) werden auf den Straßen der Stadt mit der staatlich sanktionierten Gewalt konfrontiert; eines der Opfer ist eine Freundin von Rezvan. In der Folge entwickelt sich ein eskalierender Konflikt zwischen dem angepassten Vater, der vermittelnden Mutter und den aufgebrachten Töchtern. Das Verschwinden von Imans Waffe führt zu einer explosiven Situation.

Rasoulofs weitgehend von seiner Hamburger Firma Run Way Pictures hergestellter Film hat in Cannes einen Spezialpreis gewonnen und geht als Deutschlands Beitrag in der Kategorie „Bester internationaler Film“ ins Oscarrennen. Die nicht genehmigten Dreharbeiten im Iran dauerten drei Monate. Danach hat Regisseur und Drehbuchautor Rasoulof, der 2020 mit dem Goldenen Bären der Berlinale für „Doch das Böse gibt es nicht“ ausgezeichnet wurde, das Land verlassen. Drei seiner Feigenbaum-Darstellerinnen leben mittlerweile in Berlin. „Viele Menschen haben geholfen, diesen Film zu machen. Meine Gedanken sind bei ihnen allen, und ich fürchte um ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen“, hat der 1972 in Shiraz geborene Rasoulof erklärt.

Sein Film erfüllt mit Aufnahmen von den Jina-Protesten, die 2022 in den sozialen Medien veröffentlicht wurden, eine aufklärerische Funktion. Slogans wie „Nieder mit dem Gottesstaat“ und „Nieder mit dem Diktator“ konterkarieren die offiziellen Fernsehnachrichten im Iran. „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ erzählt eine iranische Geschichte, der Film besitzt jedoch einen universellen, grenzüberschreitenden Kern. Er illustriert, wie totalitäre Regime Individuen korrumpieren und Familien zerstören. Dabei bringt Rasoulof virtuos unterschiedliche Genres zusammen: Politthriller, Dokumentarfilm und Familienkammerspiel. Bilder von Leid und Empathie erscheinen im Großaufnahmemodus. Zum Schluss der 167 Minuten gönnt er sich sogar ein paar slapstickhafte Momente.

Getragen wird die meisterhafte Erzählung von einem Ensemble, das vor Pooyan Aghababaeis Kamera emotional alle Register zieht. Zareh beglaubigt Imans Verwandlung in ein monströses Instrument des Regimes, während Golestani als seine Frau die Kämpferin in sich entdeckt. Auch Rostami und Maleki fesseln als junge Frauen, deren Engagement für eine bessere Welt sich gegen alle Widerstände wie eine Naturgewalt entfaltet.

Die Familie in „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ ist ein Spiegel des Systems. Ihr Zerfall und die zunehmende Brutalität im Privaten bilden in Rasoulofs Film das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung im Iran ab. Sein Film zeigt das ebenso drastisch wie kunstvoll. Und mit einem Ende, das durchaus ein Quäntchen Hoffnung erlaubt.