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Luther und die Juden: Für die Kirche bereits früher ein Thema

UK 47/2015, EKD-Synode Bremen (Seite 4: „Josef Schuster: Nein zur Judenmission“)
Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, kritisierte auf der EKD-Synode in Bremen, dass es der EKD als ganzer nicht früher gelungen ist, das Thema „Martin Luther und die Juden“ aufzugreifen und „selbstkritisch zu reflektieren“.
Schuster hat recht. Aber es darf doch daran erinnert werden, dass es wichtige Ansätze zur Bewältigung des in Rede stehenden Themas durchaus gegeben hat. Ich nenne auf oberster Kirchenebene die EKD-Synode in Berlin-Weißensee, April 1950, sowie seitens des Lutherischen Weltbundes die Distanzierung von Luthers Judenfeindlichkeit aus dem Jahre 1983.
Auch einzelne Landeskirchen haben hier gute Vorarbeit geleistet, allen voran der Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ der Rheinischen Kirche von 1980, maßgeblich beeinflusst von dem Freund Bonhoeffers, Bethge. Aufhorchen lässt auch die Erklärung der Synode der Evangelischen Kirche in Hassen-Nassau (Herbst 2014), in der die judenfeindliche Haltung Luthers als weder mit dem blbischen Zeugnis noch mit der Kirchenordnung vereinbar erkannt wird.
So wird die geplante Stellungnahme der EKD als ganzer gewiss geleitet sein von der Erkenntnis, dass „das Bekenntnis zu Jesus Christus das Zeugnis von der bleibenden Erwähltheit der Juden mit einschließt“ (Sibylle Biermann-Rau).
Dr. theol. Dieter Burkert, Dortmund

UK 48/2015, Ergebnisse der EKD-Synode (Seite 5: „Schritt zu mehr Gemeinschaft“)
„In einer einstimmig beschlossenen Erklärung distanziert sich die Synode von den judenfeindlichen Aussagen Luthers und anderer Reformatoren“, heißt es im Anfang des Abschnitts. Wer in den vor 200 Jahren erschienenen Büchern zum Jubiläum der Reformation liest, sieht einen „Lernprozess“, den aufgeklärte Theologen in der Kirchengeschichte bereits eingeleitet, später Vertreter einer pietistisch-fundamentalistischen Richtung bekämpft und erfolgreich abgebrochen hatten.
Als Beispiel diene ein Zitat aus Peter Heinrich Holthaus‘ „Lebensbeschreibung Doctor Martin Luthers“;  2. Auflage Schwelm 1816, S. 80. „Im Jahr 1543 predigte er [d.h. Luther], aus Unmuth und frommem Eifer, gegen die Juden, und ermahnte sie aufs nachdrücklichste, das Christenthum anzunehmen, in welcher Absicht er auch ein Buch schrieb.“  „Unmuth und frommer Eifer“ – Begriffe, mit denen ein aufgeklärter Intellektueller seine Distanz zu bloßer erkenntnisblinder Emotionalität auszudrücken pflegte. Die Legitimität dieser Kritik holte der Verfasser bei Luther selbst ein, der „noch ein Jahr vor seinem Tode, (in einer Vorrede zu der Wittenberger Ausgabe seiner Schriften [schrieb]: daß er oftmahls begehrt hätte, es würde aller seiner Bücher ganz und gar vergessen, damit bessere an ihrer Statt bleiben und im Brauch seyn möchten.“ Als die Feier des Jubeljahres anstand, schickte Johann Heinrich Scherr, Ravensbergischer Superintendent in Bielefeld, in Abstimmung mit der Bezirksregierung allen protestantischen Pfarrern seines Amtsbereichs im Sommer 1817 ein Exemplar der zitierten Schrift zu, damit in Unterricht und Predigt „nützlicher Gebrauch“ von ihr gemacht werde.  
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gingen protestantische Kirche und aufgeklärtes Bürgertum getrennte Wege; in der Kirche obsiegte eine antiaufklärerische Richtung, der Gebrauch der Vernunft wurde als „Rationalismus“ stigmatisiert und, wie geschehen, mit Mitteln des Staatsschutzes bekämpft. 1870- 1873 behauptete die Stadt Bielefeld erfolgreich die Mitgliedschaft des jüdischen Arztes Dr. Bernhard Steinheim im Vorstand der Städtischen höheren Mädchenschule, obwohl der nun amtierende Superintendent unter Beschwörung aller erreichbaren antijüdischen Ressentiments die preußische Bezirksregierung und alle Pfarrer auf seine Seite gebracht hatte.
Die einzige Ausnahme bildete Ferdinand Ribonitsch (1811-1893), der auch als einziger Pfarrer den Aufruf gegen „die aufkommende antisemitische Agitation“ 1891 unterzeichnete.
Die Geschichte der Familie Steinheim folgte der allgemeinen deutschen Geschichte, als Tochter Anna Beckmann 1942 aus Berlin nach Theresienstadt deportiert wurde und dort verstarb.
Wenn die Synode der EKD 2015 bedauert, dass „Luther im 19. und 20. Jahrhundert für theologischen und kirchlichen Antijudaismus sowie politischen Antisemitismus in Anspruch genommen werden“ konnte, sollte sie weniger Martin Luther, vielmehr die Unterdrückungsgeschichte der Aufklärung vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart als Gegenstand kritischer Rückbesinnung auf die „Schuldgeschichte“ wahrnehmen.
Fritz Achelpöhler, Bielefeld