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Kindheit im Heim: “Wir wussten nicht, was Spielen bedeutet”

Alfred Seebode erinnert an seine Kindheit im Heim der Pestalozzistiftung. Gewalt, Entbehrung und fehlende Aufarbeitung prägen sein Leben bis heute.

Alfred Seebode gehört zu Heimkindern der Nachkriegszeit
Alfred Seebode gehört zu Heimkindern der Nachkriegszeitepd-bildd/Karen Miether

Alfred Seebode legt im Frühstücksraum eines Hotels in Hannover ein Buch auf den Tisch. Die diakonische Pestalozzistiftung in Großburgwedel hat es 2021 zu ihrem 175-jährigen Bestehen herausgegeben. Auf der Seite, die der 79-Jährige jetzt aufschlägt, ist ein Foto zu sehen. Eine Gruppe kleiner Kinder aus dem damaligen Kinderheim der Stiftung steht an einem Feldrand. „Ohne Schuhe“, sagt der hochgewachsene Mann nur und schweigt dann. Bis heute spürt er die Schmerzen, mit denen sich die Getreidestoppeln in seine Füße bohrten, wenn er nach der Ernte liegengebliebene Ähren einsammeln musste. Mit zwei Jahren kam er in das Heim, das er „die Hölle“ nennt: „Wir wussten nicht, was Spielen bedeutet“, sagt Seebode, „Ich kannte den Ausdruck überhaupt nicht.“

Studien zeigen langjährige Belastungen vieler Heimkinder

Nach dem Zweiten Weltkrieg verbrachten Hunderttausende in Deutschland ihre Kindheit in Heimen. Zahlreiche Studien belegen inzwischen, wie ihr Leben bis in die 1970er Jahre vielfach geprägt war von Gewalt, Missbrauch und Entrechtung. Eine im Jahr 2011 veröffentlichte Dokumentation der hannoverschen Landeskirche und ihrer Diakonie mit dem Titel „Heimwelten“ legt unter anderem am Beispiel der Pestalozzistiftung offen, dass Schläge, Isolation und Mangelernährung auch in evangelischen Heimen in Niedersachsen keine Seltenheit waren.

Alfred Seebode wurde im Juli 1946 geboren, ein uneheliches Kind, vermutlich von einem „britischen Offizier und Gentlemen“, wie er selbst sagt. Er wurde seiner Mutter entzogen, unter dem Vorwurf, sie lasse ihre Kinder verwahrlosen. Dabei ist seine letzte Erinnerung an sie von ihrer Fürsorge geprägt. „Ich lag in einer kleinen Badewanne, früher gab es diese Metallbadewannen, in der Hand meiner Mutter“, sagt er. „In dem Keller, in dem ich dann im Heim leben musste, wurde ich nicht einmal gewaschen.“

Der 79-Jährige, der heute in Oldenburg lebt, hat auf mehr als 20 Seiten detailliert aufgeschrieben, was er in dem Heim und später in einer Pflegefamilie erleiden musste. Wie er Tag für Tag schuftete, wie auf ihn eingeprügelt wurde, „mit der flachen Hand oder einem Knüppel“. Wie Betreuerinnen sexualisierte Gewalt an ihm verübten – dem noch nicht einmal siebenjährigen Kind. Beweisen kann er vieles nicht.

Heimkinder berichten von Leid und Verantwortung der Stiftung

Doch die Pestalozzi-Stiftung verschweigt Vorwürfe, die auch weitere ehemalige Heimkinder erhoben haben, in ihrer Jubiläums-Festschrift nicht. Die Rede ist dort von 30 von ihnen, die von körperlicher Gewalt und Demütigungen durch Erzieherinnen und Erzieher berichteten. Manche beschreiben wie Seebode zudem sexualisierte Gewalt. „In Kriegszeiten und in der Nachkriegszeit bis weit hinein in die 70er Jahre gab es menschenunwürdige Zustände und Gewalttaten in der Pestalozzi-Stiftung“, sagt die heutige Vorständin der Stiftung, Andrea Sewing: Die Aufarbeitung sei für die Stiftung „eine direkte Verantwortung“.

Alfred Seebode legt seine Hände auf den Tisch des Hotel-Restaurants. Die rechte ist leicht angeschwollen, so wie immer, wenn er an damals denke, sagt er. Auf der linken Hand zeichnen sich auf einmal Flecken ab. „Dort haben sie im Heim Zigaretten ausgedrückt“, sagt er. Warum er so bestraft wurde, habe er nicht gewusst. Noch bis ins hohe Alter habe er oft Angst gehabt, dass ihm sein Gegenüber ohne Anlass „eine reinhaut“.

Späte Gerechtigkeit für Heimkinder der Nachkriegszeit

In das Hotel ist er zu einem Treffen von Missbrauchs-Betroffenen aus der hannoverschen Landeskirche gekommen. Denn er möchte kämpfen, für eine späte Gerechtigkeit, für sich und die wenigen anderen Heimkinder der Nachkriegszeit, die noch am Leben sind. Er erzählt von seinem Bruder, der ebenfalls in der Pestalozzistiftung war und schon vor mehr als 20 Jahren starb. „Der hat alles intensiver erlebt, weil er älter war als ich. Daran ist er kaputtgegangen“, sagt der 79-Jährige. „So jemand hat keine Chance, und niemanden interessiert das.“

Sozialpsychologe Heiner Keupp ist Mietglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Archivbild)
Sozialpsychologe Heiner Keupp ist Mietglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Archivbild)Imago / Karlheinz Egginger

Alfred Seebode hat laut eigenen Angaben bisher zweimal eine sogenannte Anerkennungsleistung von je 8.000 Euro bekommen. Bis Juli 2025 hat die Diakonie in Niedersachsen laut einer Sprecherin an 120 Personen aus dem Heimkinderkontext solche Leistungen in Höhe von insgesamt 1.933.000 Euro gezahlt. Die einzelnen Summen variierten dabei von 2.500 bis zu 50.000 Euro.

Auch Bund, Länder und Kirchen haben mit zwei Fonds früheren Heimkindern der Bundesrepublik sowie aus der DDR Hilfen von insgesamt rund 666 Millionen Euro gezahlt, wie der Sozialpsychologe Heiner Keupp von der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs erläutert. 40.000 Betroffene hätten dabei jeweils bis zu 10.000 Euro Unterstützung bekommen. Schätzungen zufolge habe es aber allein in Westdeutschland zwischen 700.000 und 800.000 ehemalige Heimkinder gegeben. Nur ein Bruchteil von ihnen erhielt also die Hilfe, der Fonds ist inzwischen ausgelaufen.

Lebensfolgen ehemaliger Heimkinder wirken bis heute nach

Die Kommission fordert eine monatliche Zusatzrente für ehemalige Heimkinder, wie sie zum Beispiel Österreich zahlt. Denn die Erfahrungen in Kindheit und Jugend haben sich vielfach auf deren weiteren Weg ausgewirkt. Alfred Seebode wirkt fit für sein Alter. Doch bis heute leidet er an einer posttraumatischen Belastungsstörung, wie er erzählt. Er habe Schmerzen durch Folgen der Mangelernährung und der Schläge seiner Kindheit, manchmal tagelang keine Verdauung. Beruflich musste er immer wieder neu anfangen. „Ständig habe ich immer alles verloren, musste von vorne anfangen und wusste nicht warum.“

Er bekommt aktuell 519 Euro und zwei Cent Rente im Monat, wie er vorrechnet. In seinem Bericht, den er in der Hoffnung auf bessere Unterstützung an unterschiedliche Stellen verschickt hat, hat er Buch geführt – über 70 Jahre Arbeit. Für die Zeit in der Pflegefamilie auf einem Bauernhof zählt er dort die täglichen Aufgaben auf: „Kuhstall ausmisten, Schweineställe ausmisten, Hühnerstall ausmisten“. Ohne die Ausbeutung von Hunderttausenden Heimkindern hätte nach seiner Überzeugung die Landwirtschaft in der Nachkriegszeit gar nicht betrieben werden können.

Aufarbeitung sexualisierter Gewalt an Heimkindern stockt

Alfred Seebode gehört zu den Betroffenen, die jetzt in der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission (URAK) mitarbeiten wollen. Mit solchen Kommissionen wollen evangelische Kirchen und Diakonieverbände deutschlandweit sexualisierte Gewalt aufarbeiten.

Noch aber hat sich die Kommission in Niedersachsen-Bremen, die eigentlich im März an den Start gehen sollte, nicht einmal vollständig konstituiert. Den 79-Jährigen frustriert das, er wünscht sich bald Erfolge. „Es ist jetzt an der Zeit, dass die jetzt noch Lebenden, der 40er, 50er und 60er Jahrgänge gesehen, gehört und verantwortungsbewusst entschädigt werden, nicht in Höhen von Trinkgeldern wie bislang.“