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Kindheit als Kunst: Auf dem Spielplatz mit Francis Alÿs

Ein Kind rollt einen Lkw-Reifen einen Hügel aus dunklem Sand hinauf. Der Reifen ist fast so groß wie der Junge. Er konzentriert sich, ihn in Balance zu halten, während im Hintergrund die Maschinen einer Kobaltmine hämmern. Der gesiebte Sand aus der Mine nahe Lubumbashi in der Demokratischen Republik Kongo ist der Spielplatz des Kindes und seiner Freunde. Die Kamera wechselt in die Totale und zeigt den Jungen, in knallgelbem T-Shirt mit grünen Ärmeln und roter Hose, winzig klein, auf halbem Weg den aschgrauen Sandberg hinauf.

Als das Kind in den Reifen klettert und in halsbrecherischer Geschwindigkeit den Hügel wieder hinunterrollt, stößt eine Museumsbesucherin einen leisen Schrei aus, erschrocken schlägt sie die Hand vor den Mund. „La roue“ heißt das Video, „das Rad“. Es trägt die Nummer 29 in der Reihe „Children’s Games“ (Kinderspiele) des Künstlers Francis Alÿs. Für seine Arbeiten hat der 64-jährige Belgier, der seit Langem in Mexiko lebt, nun den Wolfgang-Hahn-Preis erhalten. Er wird jährlich von der Gesellschaft für Moderne Kunst am Kölner Museum Ludwig vergeben und zählt zu den höchstdotierten Preisen für zeitgenössische Künstler.

„Francis Alÿs’ Arbeit ist im Politischen verankert und zugleich poetisch“, würdigte ihn Matthias Mühling, Gastjuror des Wolfgang-Hahn-Preises. Seine Dokumentationen zum Kinderspiel – die er auch auf der Venedig-Biennale präsentierte – machten die großen Themen der Gegenwart auf empathische Weise verständlich: „Etwa die Hypotheken der Kolonialgeschichte, die daraus resultierende Ungleichheit der Lebensbedingungen, aber auch die Utopien, die in der Schönheit des gemeinsamen Spiels liegen“.

Seit 1999 erweitert Alÿs seine Reihe der „Children’s Games“ kontinuierlich. Mittlerweile besteht sie aus knapp 40 Videos, die Kinder in aller Welt beim Spielen im öffentlichen Raum zeigen. Das Museum Wiels in Brüssel zeigt noch bis zum 7. Januar 2024 eine umfangreiche Auswahl der Arbeiten. Sämtliche Videos laufen im gleichen Raum, auf Leinwänden und Bildschirmen, untermalt von der jeweiligen Tonspur. Das Lachen, Schreien und Singen der Kinder füllt das Museum – und auch zwischen den Besucherinnen und Besuchern toben so viele Kinder herum, wie man sie sonst kaum in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst findet.

Die Videos zeigen Jungen und Mädchen in der Schweiz und in Dänemark, in Belgien und Frankreich, oft aber auch in Krisengebieten und Regionen, die von Instabilität geprägt sind, wie der Ukraine, Afghanistan oder Irak. „In Francis Alÿs’ Arbeit sehen wir, wie widerstandsfähig Kinder sind, wenn es darum geht, Autoritäten zu trotzen und mit ihren eigenen Ängsten umzugehen“, sagt der Anthropologe David MacDougall. Er ist Professor an der Australischen Nationaluniversität in Canberra und selbst berühmt für seine ethnografischen Filme.

Alÿs gelinge es, sagt MacDougall, die Anpassungsfähigkeit von Kindern auch unter widrigsten Umständen einzufangen. Wie im Spiel Nummer 19. Es trägt den Titel „Haram Football“ und ist in der aktuellen Ausstellung in Brüssel nicht zu sehen. Gefilmt wurde es 2017 im Irak, in der von den Terrorgruppen des sogenannten Islamischen Staates besetzten Stadt Mossul: Zwischen ausgebrannten Autos stecken die Kinder aus den Trümmern der eingestürzten Häuser improvisierte Tore ab. Dass sie keinen Ball haben, hindert sie nicht daran, Fußball zu spielen. Sie stellen ihn sich einfach vor. Die Kamera folgt dem nicht vorhandenen Spielgerät durch intensive Zweikämpfe ins Tor. Jubelnd fallen sich die Spieler in die Arme.

In den Videos zeigten sich kulturübergreifende Elemente der Kindheit, sagt MacDougall. Die außerordentliche Energie von Kindern, ihre Fähigkeit, sich sozial zu organisieren und ihren kreativen Einsatz der vorhandenen Mittel könne man überall auf der Welt beobachten.

Gleichzeitig aber ermögliche jedes Spiel auch Einblicke in die Besonderheiten der jeweiligen Kultur: „Die Art und Weise, wie die Kinder die Umgebung nutzen, und die Spiele, die sie wählen, spiegeln eindeutig die Gegebenheiten der Umwelt und der Gesellschaft wider, in der sie leben.“ Die zurückgehaltene Beobachtung und der Raum, den der Künstler seinen Protagonisten und Protagonistinnen gibt, machen mehr als nur das Spiel sichtbar: die Umgebung, die Sprache, Körperhaltung, Kleidung, Gesten.

Obwohl die Arbeit von Francis Alÿs damit sehr nah an seiner eigenen sei, sagt David MacDougall, bleibe der Austausch zwischen Wissenschaft und Kunst kompliziert. „Noch immer besteht eine Kluft zwischen Sozialwissenschaftlern, die an einem starren Konzept wissenschaftlicher Methoden festhalten, und denjenigen, die der Überzeugung sind, dass man einen viel forschenderen und kreativeren Ansatz wählen muss, um menschliches Verhalten wirklich zu verstehen.“

Der Junge in Lubumbashi ist gegen Ende des Videos am Fuße des Hügels angekommen. Er klettert aus dem Reifen, sein Aufstieg beginnt von vorn. Gegenüber in der Brüsseler Ausstellung läuft eine Schneeballschlacht in der Schweiz über die Leinwand, und etwas weiter bahnt sich ein Mädchen seinen Weg durch die Straßen Hongkongs – konzentriert darauf, bloß nicht auf die Rillen zwischen den Gehwegplatten zu treten.