Harshvardhan Tanwar liebt es, in der indischen Wirtschaftsmetropole Mumbai Touristen unbekannte Orte zu zeigen. Auf einer seiner Touren führt der Reiseleiter auf jüdischen Spuren durch die Stadt. 170 Touristen, vorwiegend aus den USA, Südafrika, Großbritannien und Australien hätten im vergangenen Jahr die Tour gebucht, berichtet Tanwar. Seit mehr als 2.000 Jahren leben Juden in Indien. Heute sind es noch rund 4.000, vor der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 waren es rund 30.000. Die meisten davon leben in Mumbai.
Eine Station ist erst seit kurzem Teil der touristischen Route durch Mumbai: der jüdische Friedhof Chinchpokli. 1878 wurde er von einem Enkel des jüdischen Geschäftsmanns David Sassoon angelegt, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Bagdad nach Bombay – wie die Stadt damals hieß – geflohen war. Bis heute zeugen viele Gebäude im Zentrum der Millionenmetropole vom Engagement der wohlhabenden Familie, Tanwar führt die Reisenden unter anderem zur David-Sassoon-Bibliothek, den Sassoon Docks am Hafen und einigen Synagogen.
Den Friedhof zeigte er lange Zeit nur auf Nachfrage. „Dieser Friedhof hat einen ganz eigenen Charakter“, erklärt Achim Fabig, seit 2022 deutscher Generalkonsul in Mumbai, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er liege „in der Mitte der Metropole, fast versteckt von der Straßenseite, vom Bahnsteig des Bahnhofs Chinchpokli hingegen mit einem einfachen Sprung über eine halbhohe Mauer zu erreichen.“
Mehr als 1.000 Juden liegen hier begraben. Darunter sind auch rund 30 Menschen aus Polen, Deutschland, Tschechien und Österreich, die vor dem Holocaust nach Indien geflohen sind. Schätzungsweise hätten insgesamt rund 5.000 europäische Juden auf dem indischen Subkontinent Zuflucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung gefunden, sagt die österreichische Historikerin Margit Franz. „Und der Friedhof ist der einzige Ort, der in Indien an den Holocaust erinnert.“
Bei seinem ersten Besuch des Chinchpokli-Friedhofs war Achim Fabig geschockt von dem Anblick, wie er erzählt. Es hätten Bierflaschen herumgelegen, einige der Marmorplatten seien beschädigt oder abgebaut worden. „Aus den anliegenden Slum-ähnlichen Behausungen war Müll aus den Fenstern gekippt“, erinnert er sich.
Zusammen mit seinem israelischen Kollegen habe er sich für den Friedhof eingesetzt. „Unser Ziel war nicht die vollständige Restaurierung, sondern die Begehbarmachung des Friedhofs, die Rückführung in den öffentlichen Raum und hier ganz spezifisch des europäischen Teils“, erklärt er. Dafür habe das Auswärtige Amt Bänke und Laternen finanziert, außerdem seien die Wege für die Monsunzeit wetterbeständig hergerichtet worden. „Es geht darum, Geschichte sichtbar zu machen“, sagt Fabig.
Zur Eröffnung Anfang Juli 2024 kam auch Jinx Akerkar. Die 93-jährige Jüdin wurde in Berlin geboren, floh vor den Nazis in die USA. In den 1950er Jahren kam sie mit ihrem indischen Ehemann nach Mumbai. Damals habe sie noch viel Kontakt zu den Holocaustüberlebenden gehabt, erinnert sie sich. „Ich habe Geschichten gehört von Menschen, die Nazi-Deutschland entkommen wollten und eine Schiffspassage zu den entferntesten Orten, die sie finden konnten, buchten, einschließlich China. Die Schiffe stoppten in Bombay und einige Familien entschieden sich, hier zu bleiben.“
Eine Plakette am Tor des Friedhofs markiert diesen nun als Teil der „Jewish Route“. Mit dem Projekt will die Tourismusagentur des Bundesstaates Maharashtra in Zusammenarbeit mit der israelischen Botschaft jüdische Geschichte und Leben sichtbar machen. Bislang gehören 26 Orte in Maharashtra zur „Jewish Route“, zwölf davon in Mumbai. Ziel des Projekts ist es nach Angaben der Initiatoren, die reiche Kultur der Juden in Indien zu erhalten. Chinchpokli ist bislang der erste Friedhof auf der „Jewish Route“.
Reiseführer Tanwar hofft er, dass bald noch weitere Orte in die Route aufgenommen werden: Er denke dabei an Alibag, einen Vorort von Mumbai, sagt er. Dort sollen vor mehr als 2.000 Jahren die ersten Juden in Indien angekommen sein.