20 Berufsfach-Schülerinnen und -schüler aus unterschiedlichen Nationen und Religionen sitzen im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main in einem Kreis. Sie sind 16 bis 20 Jahre alt und streben noch den ersten Schulabschluss und den Eintritt in eine Ausbildung an. Zwischen ihnen sitzen jeweils ein Vertreter von Christentum, Judentum und Islam. Eine Schülerin, geschminkt, mit Kopftuch und langem Mantel, richtet das Wort an die europäisch gekleidete Muslimin. „Ist das Kopftuchtragen nicht Pflicht?“, fragt sie diese.
Die am Jüdischen Museum arbeitende Lehrerin Türkan Kanbicak verneint: Im Koran stehe, man müsse bedecken, was bedeckt werden soll. „Ich finde, die Haare sind uninteressant. Wichtiger ist es, die Zunge zu zügeln“, sagt Kanbicak. Und wenn eine Muslimin schon ihre Haare mit einem Kopftuch bedecke, dann bitte auch kein Makeup. Die Schülerin widerspricht heftig. Jonathan, ein säkularer Jude und junger Bildungsmitarbeiter des Museums, wirft zur Erklärung ein: Die heiligen Schriften seien so alt, dass vieles in ihnen stehe, was mit der heutigen Gesellschaft kollidiere, sie müssten interpretiert werden.
Kanbicak hat das Programm „AntiAnti – Museum goes School“ des Jüdischen Museums entwickelt. Den Anstoß dazu habe die Ausreise von Schülern 2016 zum „Heiligen Krieg“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“ gegeben, erzählt sie. „Mir ist aufgefallen: die Schüler wissen wenig über den Islam, haben aber massive persönliche Bedürfnisse.“ Auf dem Schulhof hätten ideologisierte Schüler versucht, andere zu missionieren, auch in einer Moschee in Frankfurt-Ginnheim seien Schüler ideologisiert worden. „Man darf den Islam nicht pauschal für den Extremismus verantwortlich machen“, sagt Kanbicak. „Die jungen Schüler waren nirgends angekommen, sie gehörten nicht dazu.“
Der Trialog der Religionen im Jüdischen Museum ist einer von sechs Workshops des Programms, an dem eine Berufsschulklasse ein Halbjahr lang teilnehmen kann. Das Programm soll die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler stärken, ihren Horizont erweitern und Vorurteilen bis hin zu Extremismus und Antisemitismus vorbeugen. Deshalb setzt die Workshop-Reihe bei der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen an.
Die Schüler berichten über ihr Leben und die Einwanderungsgeschichte ihrer Familie, sie sprechen über die Schule und Erfahrungen von Ausgrenzung. Dann erkunden sie den eigenen Stadtteil als ihre Heimat. Beim Trialog im Jüdischen Museum lernen sie andere Religionen kennen, an der Schule diskutieren sie über Medien und Fake News. Schließlich formulieren sie Wünsche und Zukunftsperspektiven und feiern den Abschluss im Jüdischen Museum.
Der Marburger Erziehungswissenschaftler Benno Hafeneger hat das seit 2017 laufende Programm untersucht. Die 250 interviewten ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer hätten es durchweg gelobt, berichtet Hafeneger. 98 Prozent von ihnen seien vorher nie in einem Museum gewesen, hinterher wollten viele das Jüdische Museum wieder besuchen. Viele der Schüler hätten vorher nie öffentlich über Themen der eigenen Identität, der Familie und des Glaubens gesprochen.
„Ich habe eine Generation erlebt, die total verunsichert ist“, sagt Hafeneger. Das Programm fördere dagegen einen „Prozess der Beheimatung“. Auch die Arbeitsweise, dass jeder offen seine persönliche Meinung sagen könne und die anderen zuhörten, ohne dass jemand ausfällig werde, übe grundlegendes demokratisches Verhalten ein. Auf die Frage, was an den Tagen wichtig geworden sei, hätten die Schülerinnen und Schüler am häufigsten die Begriffe Toleranz, Respekt und Empathie genannt.
An dem Programm haben nach den Worten von Kanbicak bisher rund 400 Berufsschülerinnen und -schüler aller Sparten aus der Region teilgenommen. Gestartet mit zwei Klassen pro Halbjahr, habe das Jüdische Museum nach dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober die Zahl auf drei Klassen pro Halbjahr erhöht. Das Jüdische Museum sei schon für die nächsten zwei Jahre ausgebucht.